Kaiserhof Strasse 12
bis zum bitteren Ende ausgehalten. Der HJ-Führer ging als Freiwilliger in den Krieg und fiel 1943 im Kessel von Stalingrad.
Der Schreckenstag war noch nicht zu Ende. Am späten Abend kam Erika Hirschmann, die Schwester des Arztes Sely Hirschmann, die in der Israelitischen Gemeinde (Bis November 1938 gab es in Frankfurt die »Israelitische Religionsgemeinschaft« und die außerkirchliche »Israelitische Gemeinde«. Auf Anordnung der Gestapo wurden dann beide zur »Jüdischen Gemeinde« zusammengelegt. Heute gibt es ebenfalls nur noch die »Jüdische Gemeinde«.) als Sekretärin arbeitete, mit einer schlimmen Nachricht zu uns in die Kaiserhofstraße. Das Haus der Jüdischen Wohlfahrtspflege in der Königswarterstraße war von SA-Leuten besetzt worden. Sie hatten sämtliche Räume durchwühlt, Vorstand und Geschäftsführung verhaftet und unter anderem eine Kartei mit den Namen aller gegenwärtig und ehemals betreuten Personen mitgenommen. Wer diese Kartei überprüfte, mußte auf unseren Namen stoßen. Am gleichen Tag waren auch die gesamten Unterlagen der Israelitischen Gemeinde in der Fahrgasse einschließlich der Mitgliederkartei beschlagnahmt worden. Dort war unser Name ebenfalls zu finden, auch wenn unser Austritt aus der Gemeinde schon Jahre zurücklag.
Als wir später im Familienkreis überdachten, was diese Nachricht für uns bedeutete, waren wir uns darüber einig, daß jetzt unser Versteckspiel ein Ende hatte. Wir befürchteten nur, Polizeimeister Kaspar würde Schwierigkeiten bekommen, wenn man die Einwohnerkartei im Polizeirevier Hochstraße überprüfte und feststellte, daß auf unserer Karteikarte die Religionszugehörigkeit verändert worden war.
Daß wir einmal am Ende dieser Gasse ankommen mußten, war uns längst klar. Aber die Ungewißheit darüber, wann das sein würde, war zu einer kaum mehr erträglichen Belastung geworden. Und so warteten wir ruhig und fast gelassen darauf, daß man uns holen würde, warteten zwei, drei, vier Tage. Mama bekam wieder ihre Herzattacken und ich meine Magenkrämpfe. Wir warteten Wochen und Monate. Aber nichts geschah.
Besuch beim Arzt
Eines Tages wurden meine Magenschmerzen so schlimm, daß ich sie nicht mehr aushalten konnte. Ich wälzte mich auf meinem Bett, rang nach Luft, massierte den Magen oder legte kochendheiße Tücher auf, daß ich bald aussah wie ein gesottener Krebs, nichts half. Ich mußte einen Arzt aufsuchen, um mir schmerzlindernde Mittel verschreiben zu lassen, es blieb mir keine andere Wahl.
Mama war entsetzt, als ich ihr sagte, ich wolle zu einem Arzt gehen, denn sie war sicher, er werde sofort auf meine Beschneidung aufmerksam werden und mich danach fragen. Auch Papa und meine Geschwister waren voller Sorge, aber am Ende sahen sie ein, daß ich mit diesen Schmerzen nicht mehr weiterleben konnte. So wurde der Arztbesuch von der ganzen Familie beschlossen.
Bisher hatten weder Papa, Alex noch ich einen Arzt gebraucht und wir machten uns auch nie Gedanken darüber, wie wir uns in einem solchen Fall verhalten sollten. Von Mama kam die Idee, wie so oft im Ansatz kühn, doch unausgereift und letztlich dilettantisch. In Südrußland gab es zu der Zeit, als Mama dort lebte, noch immer verhältnismäßig große Gemeinden der verbotenen Sekte der Skopzen. Die Anhänger dieser im 17. Jahrhundert gegründeten und völlig im Sühnegedanken verstrickten christlich-schwärmerischen Gruppe hatten die schreckliche Angewohnheit, ihren vermeintlichen Schuldanteil an der Erbsünde durch Selbstverstümmelung zu bezahlen. Dieser Brauch hatte sich im Laufe der Zeit auf ein symbolisches Beschneiden der Vorhaut reduziert.
Während ich die Fäuste in die Magengrube preßte und dabei stöhnte, schärfte Mama mir ein: »Merk dir gut, Walja, was du dem Arzt zu sagen hast, wenn er nach deiner Beschneidung fragen sollte: deine Eltern, die Wolgadeutsche sind, gehörten der Sekte der Skopzen an, bei denen das Beschneiden üblich war. Das ist der Grund, weshalb auch du beschnitten bist. Wenn der Arzt noch mehr wissen will, sagst du, das sei nach deiner Geburt gemacht worden, irgendwo in einem Frankfurter Krankenhaus. Und sonst sagst du nichts, kein Wort. Hast du verstanden?«
Ich merkte mir die Geschichte gut, obwohl ich große Zweifel hatte. Aber wie das in der Familie so üblich war, widersprach ich Mama nicht. Warum auch? Sollte ich sie noch unglücklicher machen?
In einem offiziellen Verzeichnis fanden wir unter der Rubrik »Fachärzte für Magen- und
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