Kaiserhof Strasse 12
ist auch eine Gastritis dazugekommen, eine Magenschleimhautentzündung. Ich verschreibe Ihnen eine Rollkur.«
Dann setzte er sich an den Schreibtisch, füllte ein Rezeptformular aus, erklärte mir noch, wie ich die Rollkur machen müsse, welche Diät ich in der nächsten Zeit einhalten solle, und verabschiedete sich mit den Worten: »Wenn's gar nicht besser wird, müssen Sie halt noch mal kommen. Auf Wiedersehn, Herr -« er schaute auf die Karteikarte: »Herr Senger.«
Er öffnete mir die Tür zum Flur, wandte sich an seine Sprechstundenhilfe: »Der nächste Patient!« und ging in sein Ordinationszimmer zurück. Die Tür schloß sich.
Und wieder schien es, als ob wir am Ende angekommen seien. Jeder SA-Mann hatte einen feierlichen Treueid geleistet, Hitler und dem Dritten Reich zu dienen und die Marxisten und Juden zu bekämpfen, damit die arische Rasse reinerhalten bleibe. So war auch der SA-Mann Dr. Hanf-Dreßler verpflichtet, Meldung über einen getarnten Juden zu machen. Aus seinen Bemerkungen während der Untersuchung war deutlich zu verstehen gewesen, daß er mich als Jude erkannt, wenn man so will: entlarvt hatte.
Und noch etwas kam hinzu: in dieser Zeit, es mag Ende 1938 oder Anfang 1939 gewesen sein, war bereits das Gesetz in Kraft getreten, nach dem alle Juden einen kennzeichnenden Vornamen tragen mußten, bei Frauen »Sarah«, bei Männern »Israel«. Mit diesen Vornamen wurden nicht nur die polizeilichen Unterlagen, Pässe und andere Ausweise ergänzt, jedes amtliche oder nichtamtliche Formular, das ein Jude auszufüllen, jede Unterschrift, die er zu leisten hatte, mußten mit dem ausgeschriebenen Zwangsvornamen versehen sein.
So war es für den Arzt einfach, anhand meines Krankenscheins zu erkennen, daß ich nicht als Jude registriert war, es fehlte der kennzeichnende Vorname Israel. Ich war also, so mußte zwangsläufig seine Schlußfolgerung sein, auf illegale Weise durch die Maschen des Gesetzes geschlüpft, und hier spätestens hörte seine ärztliche Schweigepflicht auf, denn der fehlende Vorname Israel hatte nichts mit meinen Magenbeschwerden zu tun - oder doch nur sehr mittelbar.
Zu Hause erzählte ich nichts von meinem Erlebnis. Was würde es auch nützen? Mama bekäme erneut einen Herzanfall, und Papa würde ihr kalte Tücher aufs Herz legen, im Zimmer auf und ab gehen und stöhnen: »O Gott, mit was haben wir das verdient?«
Nur Alex erzählte ich davon. Er war überzeugt, Dr. Hanf-Dreßler würde eine Meldung machen. Gemeinsam warteten wir darauf, daß nunmehr der Ernstfall eintrete. Nach Tagen schrecklicher Ungewißheit mußte ich erkennen, daß der Arzt geschwiegen und so unsere Familie vor der Deportation und damit vor der Vernichtung bewahrt hatte.
Viele Jahre später erfuhr ich, Dr. Hanf-Dreßler habe, obwohl er in der Reiter-SA war, einer Reihe von Juden geholfen, habe sie trotz Verbots in seiner Praxis behandelt, außerhalb der Sprechstunde, und in seinem Jagdhaus im Spessart ein jüdisches Ehepaar über ein halbes Jahr versteckt gehalten, bis sich eine Gelegenheit fand, die beiden illegal über die Grenze zu bringen. Und in seiner Privatklinik im Frankfurter Westend habe er bis zu deren Zerstörung durch amerikanische Bomber eine jüdische Ärztin unter falschem Namen als Krankenschwester beschäftigt.
Dr. Hanf-Dreßler hatte nach Kriegsende einige Zeit in der Provinz gearbeitet und war erst in den fünfziger Jahren nach Frankfurt zurückgekehrt. 1967 erfuhr ich zufällig, daß er Chefarzt im Bürgerhospital sei. Da nahm ich mir vor, ihn aufzusuchen, unsere damalige Begegnung in seiner Praxis zu schildern und ihm zu danken.
Ich zögerte, zu ihm zu gehen, vielleicht würde er mich mißverstehen. Meine Frau drängte mich. Ein letztes Mal redeten wir um die Weihnachtszeit 1970 darüber. Ich versprach, nun endlich mit Dr. Hanf-Dreßler einen Termin auszumachen. Anfang Februar 1971 rief ich im Bürgerhospital an.
Von seiner Sekretärin bekam ich die Auskunft, der Chefarzt sei zur Zeit in Urlaub. Wenn ich ihn sprechen wolle, müsse ich mich in zwei Wochen noch einmal melden.
Einige Tage nach diesem Anruf las ich in der »Frankfurter Rundschau« die Meldung: »Der Chefarzt des Bürgerhospitals, Dr. Kurt Hanf-Dreßler, ist am 24. Februar 1971, an seinem 67. Geburtstag, zusammen mit seiner Frau beim Skilaufen im Silvretta-Gebiet in den österreichischen Alpen durch eine Staublawine ums Leben gekommen.«
Nichts tun ist das beste
Als ich die Gesellenprüfung bestanden hatte,
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