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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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schlohweißen Haaren. Die dritte schließlich mochte Ende fünfzig sein. Sie stand schon ein wenig steif und schwer auf ihren Beinen. Wie sich bald herausstellte, war der Jagdaufseher von den Frauen beauftragt worden, aus dem in Auflösung befindlichen Lazarett im Ursulinenkloster zwei Soldaten herbeizuholen, die ihnen als Leibwächter in den vorauszusehenden kritischen Wochen des Zusammenbruchs dienen sollten.
    Und Justus Mohl hatte den für ihn nicht ungefährlichen Auftrag übernommen. Nicht ungefährlich darum, weil er uns ja das Desertieren und Untertauchen im Jagdhaus empfahl und dazu Beihilfe leistete. Wäre das Unternehmen schiefgelaufen, hätte es ihn Kopf und Kragen kosten können.
    Die drei Frauen kannten sehr wohl das Risiko ihres Tuns und sorgten vor. Ihre ständige Redewendung war: »Damit haben wir nichts zu tun. Das ist Herrn Mohls Angelegenheit.«
    Das Sagen im Hause hatte Frau S., die jüngste mit dem spitzen Gesicht und dem Haarknoten. Sie war die Schwiegertochter der ältesten der drei, der Frau B. Die dritte mit den freundlichen Augen und den weißen Haaren, Frau H, gehörte nicht zur Familie. Die Männer aller drei Frauen waren höhere Offiziere, einer hatte sogar einen Generalsrang.
    Sehr bald kam das Gespräch auf unser Verbleiben. Ohne darauf einzugehen, wie wir überhaupt hergekommen waren, bot uns Frau S. an, wir könnten in dem Haus Quartier nehmen, so lange wir wollten, es gebe eine Schlafkammer für uns, und auch zu essen sei genug da.
    Als die Frauen in die Küche gegangen waren, um das Abendessen zu bereiten, schilderte uns Justus Mohl die Situation der Jagdhausbewohnerinnen und fragte: »Wollt ihr nun hierbleiben, oder wollt ihr weiter? Es liegt an euch. Niemand hält euch. Aber eines kann ich euch im voraus sagen: wenn ihr geht, werdet ihr in kürzester Zeit in amerikanischer Gefangenschaft landen. Also, wie ist's?«
    Ich hatte nicht lange zu überlegen, ich wollte nicht in Gefangenschaft kommen, obwohl ich wußte, daß es ein Spiel um Leben und Tod werden konnte. Erwischte mich eine Wehrmachtspatrouille hier im Jagdhaus, würde sie mit mir kurzen Prozeß machen. Und es sprach nichts dafür, daß sie dieses im Wald versteckte Haus übersehen sollte. Fiel ich nicht den Deutschen, aber später amerikanischen Fronttruppen in die Hände, könnte es mir genauso übel ergehen.
    Und doch stimmte an dieser Überlegung etwas nicht. Die Vernunft hätte mir sagen müssen, daß ich vor den Amerikanern keine Angst zu haben brauchte. Ihr Kommen bedeutete für mich Befreiung. Aber ich hatte ebenfalls große Angst vor dem Entlarvtwerden und benahm mich wie ein deutscher Deserteur. Es schien, als bedecke die verhaßte Uniform nicht nur meinen Körper, sondern auch meine Seele. Im Innern lebte die Hoffnung auf baldige Beendigung des Krieges und auf Befreiung aus der Qual unseres Lügendaseins, überlagert jedoch von der Angst eines deutschen Landsers. Mein Verhalten in diesen Wochen war sowohl Feigheit als auch die jüdische Anpassungsfähigkeit an jede Situation, auch noch an die schmachvollste, wenn es ums Überleben geht.
    Die drei Frauen hatten schreckliche Angst vor der sie bald überrollenden Front, schwatzten aber immer noch vom Standhalten. Möglicherweise glaubten sie, das ihren Männern schuldig zu sein. Sie ahnten, was geschehen würde, wenn im Chaos zwischen dem Abzug der deutschen Truppen und dem Einmarsch der Alliierten die Hunderttausenden polnischen und russischen Zwangsarbeiter aus den Lagern aufbrechen würden. Aber sie selbst fühlten sich ohne Schuld und noch immer im Recht. Bis ich das richtig begriff, war ich, der Sohn von Moissee Rabisanowitsch und Olga Sudakowitsch, der wie kaum ein anderer den Tag herbeigesehnt hatte, da Amerikaner oder Russen, wer auch immer, dem Nazispuk ein Ende bereiten würde, zum Leibwächter dreier Frauen avanciert, die mich - und zwar jede von ihnen - bedenkenlos dem Henker ausgeliefert hätten, wenn ihnen mein Geheimnis bekannt geworden wäre.
    Frau S., die das Kommando führte, hatte einen ausgeprägten Sinn fürs Praktische. In den nächsten acht Tagen, in denen sich nichts tat, was die Beschützer in Funktion rufen konnte, beschäftigte sie uns von früh bis spät, denn auch der andere Soldat hatte sich zum Hierbleiben entschlossen. Mit einem Fußmarsch am Morgen nach dem dreißig Minuten entfernten Heimarshausen begann es, wo wir frische Milch vom Bauern und Brot und Brötchen vom Bäcker holten. Wir sägten und hackten Holz, schleppten Möbel,

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