Kaiserhof Strasse 12
zuletzt und in einen eigenen winzigen Raum, wo wir so eng beieinander saßen wie die vielen Kakerlaken, die sich an allen Flächen und besonders in den Ecken des feuchten Kellergewölbes drängten.
Eine weltliche Krankenschwester, mit der ich mich während der langen Quarantäne angefreundet hatte und die unmittelbar neben dem Kloster wohnte, bot mir an, in ihre Wohnung zu ziehen, wenn das Lazarett aufgelöst werden sollte. Sie zeigte mir auch, wie ich unbemerkt dorthin gelangen könnte. In Gefangenschaft zu kommen, sagte sie, sei immer noch besser, als an die Front abtransportiert zu werden, und damit hatte sie zweifellos recht. Von der Lazarettauflösung bis zur Ankunft der Amerikaner konnten höchstens zwei, drei Tage vergehen, und ich wäre gerettet gewesen. Ich traute mich nicht, zögerte und ließ die Chance vorübergehen.
Die Quarantäne war längst aufgehoben. Alle gehfähigen Lazarettinsassen mußten ihre Uniformen anziehen und in die Artilleriekaserne abmarschieren. So wurden diejenigen, die hoffnungsvoll darauf gebaut hatten, im Lazarett das Ende zu erleben, noch in der letzten Stunde des Krieges an die Front, vielleicht in den Tod geschickt.
Und damit auch keiner auf dem Weg vom Lazarett in die Kaserne die falsche Richtung einschlage, waren mehrere Unteroffiziere der Ausbildungsabteilung der Schweren Artillerie ins Lazarett gekommen, um die kranken Soldaten sicher in die Kaserne zu geleiten.
Ich saß in Uniform und Schnürstiefeln auf meinem Bett, wartete auf den Marschbefehl und rauchte eine selbstgedrehte Zigarette nach der anderen. Am letzten Tag hatte man nämlich den Lazarettinsassen noch großzügige Tabakrationen ausgeteilt, nachdem wir wochenlang keinen Tabak bekommen hatten, drei Päckchen für jeden. Es gab zwar kein Zigarettenpapier, aber wir hatten gelernt, in Zeitungspapier zu drehen.
Von Zeit zu Zeit erschien ein Feldwebel in der Tür, rief ein oder zwei Namen auf und übergab die Entlassungspapiere aus dem Lazarett. Ein letztes Händeschütteln, und einer nach dem andern zog ab in die Kaserne. Keinen von ihnen habe ich je wiedergesehen.
Wir waren nur noch zu zweit. Ein junger Stahlwerksarbeiter aus Soest und ich. Der andere hatte den Wundbrand im bereits amputierten linken Arm und hohes Fieber. Der Arzt meinte, es sei sehr schlimm um ihn bestellt, denn er habe keinen Willen mehr zum Weiterleben, und er wisse nicht, wie er ihm helfen solle. Knapp vierzehn Tage zuvor hatte der junge Soldat die Nachricht erhalten, daß seine Mutter und seine fünfzehnjährige Schwester bei einem Bombenangriff auf Dortmund ums Leben gekommen waren. Er hatte lange geweint und seitdem kaum noch mit jemandem gesprochen, lag nur da und hatte fast immer die Augen geschlossen.
Ich saß neben ihm und versuchte, ihm ein wenig Mut zu machen: »Mensch, beiß' die Zähne zusammen. Für dich ist doch der Krieg zu Ende!« Was sollte ich anderes sagen? Ich legte ihm die Hand auf den heißen Kopf, für einen Augenblick schlug er die Augen auf und schaute mich an. »Mach's gut, Kumpel«, sagte er leise, »sieh zu, daß du gesund nach Hause kommst.« Und mit seiner rechten Hand berührte er die meine. Ich hätte losheulen mögen.
Der Feldwebel kam wieder herein. Nun war ich an der Reihe. Aber er hatte keine Papiere in der Hand.
»Kanonier Senger.«
Ich stand auf und schaute ihn fragend an.
»Melden Sie sich beim Stabsarzt. Sofort. Verstanden?«
»Jawohl.«
Trotzdem verstand ich nicht, was das heißen sollte. Untersuchungen und ärztliche Behandlungen gab es schon seit Tagen nicht mehr. Nur noch so Schwerkranke wie mein Bettnachbar aus Soest wurden versorgt. Dieser Befehl bereitete mir Unruhe.
Ich war stets unruhig, wenn ich etwas tun mußte, was nicht in der Norm lag. Mama hatte mir eingeprägt, immer nur das zu tun, was andere auch machten, nie aus der Reihe zu tanzen, jedes Auffallen zu vermeiden. Zwei Jahrzehnte lang habe ich das so sehr geübt, daß ich in meiner Unscheinbarkeit zu erstarren drohte und noch lange nach der Hitlerzeit erschrak, wenn ich eine Meinung kundtun, Profil zeigen sollte.
Mit Herzklopfen ging ich den Gang entlang zum Stabsarzt, trat ein und machte Meldung.
»Schon gut.« Er winkte ab, als wolle er sagen: das können Sie sich jetzt auch sparen. Er nahm einige Papiere von seinem Schreibtisch und sagte in dienstlichem Ton: »Ich habe bei Ihnen einen Herzmuskelschaden festgestellt. Sie sind dienstunfähig und brauchen eine Spezialbehandlung. Am besten in Bad Nauheim.«
Bad Nauheim war
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