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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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seiner Maschinenpistole auf mich.
    Ich wunderte mich nicht, daß der Amerikaner mit den drei Winkeln am Ärmel auf mich deutete, ich hatte es so erwartet. Wen sollte er sonst herbeiholen? Etwa den Möbelfabrikantensohn? Der hatte mir schon immer den Vortritt gelassen, solange wir zusammen waren. Darum war es nur folgerichtig, daß der Amerikaner auf mich deutete. Gebannt starrte ich auf die Mündungsöffnung der Maschinenpistole, mit der er mich herbeiwinkte.
    Noch einmal schrie er: »Come on!«
    Langsam, mit erhobenen Händen, ging ich auf die Soldaten zu.
    Erinnerst du dich, Mama, wir oft wir in der kleinen Wohnstube im Hinterhaus der Kaiserhofstraße zusammengesessen und davon geträumt haben, wann und wie einmal unsere Todesängste von uns genommen würden, wie wir überlegten, ob Russen, Engländer oder Amerikaner als erste nach Frankfurt kämen, um uns das Leben wiederzugeben. Und Alex malte mit Worten und Gesten aus, wie man uns befreien würde. Er konnte es am besten. Eine seiner Visionen war, sie würden, wild um sich schießend, mit einem Panzerfahrzeug in die Toreinfahrt preschen, die schweren Torflügel zerschmettern, weil sie keine Zeit hatten, sie jetzt noch zu entriegeln und zu öffnen, und dann in den Hinterhof fahren, wo die Handkarren vom Käs-Petri stehen. Mit einer kurzen Drehbewegung würde Kleinholz daraus. Doch das machten sie nur so zum Spaß. Dann würde sich die Luke öffnen, ein russischer, englischer oder amerikanischer Stahlhelm erscheinen und eine laute Stimme würde uns zurufen: »He, ihr da oben, kommt heraus! Ihr braucht keine Angst mehr zu haben, es gibt keine Nazis mehr! Habt ihr verstanden! Kommt heraus, euch kann nichts mehr passieren!«
    Eine schöne Vision, doch du, Mama, warst strikt dagegen, daß Panzer auf den Hinterhof kämen, wegen des scheußlichen Lärms der Panzerketten, und schon gar nicht, wenn sie wild um sich schössen. Vom Kleinholzmachen der Käs-Petri-Karren hieltest du auch nichts. Wenn es nach dir gegangen wäre, würden mehrere Soldaten in den Hof stürmen, am besten ohne Knallerei, und einer käme die Hinterhaustreppe hoch, denn er hätte längst gewußt, wo wir zu finden sind. Dann hätte er an die Tür geklopft, einmal, zweimal, und gerufen: »Macht auf! Warum versteckt ihr euch noch?« Aber Alex war da anderer Meinung: wenn sie schon zu Fuß kämen und einer stürmte die Treppe hoch, dann sollte er zumindest nicht höflich anklopfen und fragen, ob wir zu Hause seien. Das wäre doch keine Befreiung! Nein, nein, das dürfte nur so vor sich gehen: Bevor wir noch die Türe öffnen konnten, hätte er sie mit seinen schweren Stiefeln eingetreten und uns zugerufen: »Ihr seid frei! Geht hinaus, wohin ihr wollt! Geht schon!« Und wer er auch sein würde, dieser erste, ein russischer Iwan, ein französischer Poilu, ein englischer Tommy oder ein amerikanischer Gl, in unser aller Umarmung sollte ihm die Luft wegbleiben, unsere Tränen sollten ihn nässen, unsere Küsse ihn bedecken.
    Dabei kamen uns wirklich die Tränen, so überwältigte uns die Vorstellung vom Tag der Befreiung und die Hoffnung, diesen Tag vielleicht doch noch einmal zu erleben.
    Mama, du wußtest, daß dein Herz nicht mehr lange durchhalten würde, du hast dir nichts vorgemacht; du hattest die Kraft, auch darüber zu sprechen, und hast die Träume von der Befreiung mitgeträumt. »Wenn ich es schon nicht erleben werde«, sagtest du mit trauriger Stimme und versuchtest zu lächeln, »dann will ich wenigstens noch einmal davon träumen.«
    Und Alex wurde nicht müde, immer neue Befreiungsträume zu erdichten. Für mich der schönste war, wenn wir uns vorstellen mußten, wie alle Bewohner unseres Hauses und unserer Straße vor den anrückenden Amerikanern oder Russen flüchten würden. Wir aber blieben da. Und wenn sie dann kämen, stürzten wir auf die Straße und würden rufen: »Wir sind gerettet, wir sind frei!«
    Und die fremden Soldaten würden erstaunt fragen: »Warum seid ihr gerettet? Wer seid ihr?«
    Wir würden antworten: »Wir sind Juden!«
    Sie würden fragen: »Was seid ihr?«
    Und noch mal würden wir sagen: »Wir sind Juden!«
    »Das müßt ihr lauter sagen!« würden sie uns befehlen.
    Und wir würden rufen: »Wir sind Juden!«
    »Noch lauter!«
    Und dann nähmen wir die Hände wie Trichter an den Mund und schrien in alle Richtungen so lange, bis wir heiser wären:
    »Wir sind Juden! Wir sind Juden! Wir sind gerettet!« Und auf der Straße würden wir tanzen, du, Mama, Papa, Paula,

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