Kaktus zum Valentinstag
Bergwelt ohne weiteres für mich bedeutsames Leben. Als ich schließlich Lhasa erreiche, beeindrucken mich die faltigen, jungen Menschen. Ihre Haut ist alternd höhengegerbt, und sie sind gläubig.
Ich erlebe im wahrsten Sinne des Wortes, wie gebetsmühlenartiges Wiederholen aussieht. Ich mache Bekanntschaft mit den Lehren Buddhas. So lerne ich etwas über die vier edlen Wahrheiten und den achtfachen Pfad. Überall begegnen mir hier die entsprechenden Symbole, darunter der unendliche Knoten der Ewigkeit, der mich mit seiner gebrezelten Maschendrahtzaunstruktur an den Teppichklopfer aus Kindertagen erinnert, und das hier allgegenwärtige Dharma-Rad, als Zeichen für den achtfachen Pfad.
Es ist mittlerweile der 9. Oktober 1997, ein kaltgoldener, dunkelbeiger Tag. Nach einer im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Fahrt über das Himalaya-Gebirge habe ich gerade Kathmandu erreicht. Erschöpft schlafe ich im Hotel ein. Auf einmal erlebe ich mich selbst. Dort, wo ich aufgewachsen bin, allerdings in einer naturbelassenen Landschaft, die an einen verwahrlosten Garten erinnert. Allessieht plötzlich ganz anders aus, irgendwie so, als wenn das Leben nicht stattgefunden hätte, als wenn die Zeit stehen geblieben wäre.
»Wie vor dem Kriege«, wie die Locken immer sagte. Ich sehe das Gadenstedter Grundstück mit dem Haus darauf. Alles ist voller Unkraut und Brennnesseln. Und die Locken ist bereits total tibeterfaltig und sehr, sehr alt geworden. Und ich selber bin schon in den Fünfzigern. Der braune Brummelbär ist bereits lange tot.
Und es weht ein eiskalt heulender Ostwind. So wie früher immer das Küchenfenster genau dann sang, wenn der Wind direkt aus dem pelzfelligen Russland zu kommen schien. Und obwohl es erst Mitte Oktober ist, wehen erste zarte Schneeflocken durch die schneidend kalte Luft zwischen den noch voll belaubten Bäumen.
Da deutet die Locken nach Osten auf das weite Feldland und sagt beobachtend: »Die Elche kommen dieses Jahr aber schon sehr früh!« Nach einer kurzen Pause fügt sie sehr bestimmend hinzu: »Der Winter wird wieder streng!« Ich starre nach Osten. Das war doch nicht das Land, der Garten, in dem ich all die Jahre lebte, oder doch?!
Ich frage mich sofort: Wo bin ich hier? Wo ist die Mau? Wo sind die RaRas, meine Kinder? Ja, ich habe zwei Kinder. Und wo ist überhaupt all die Zeit geblieben, als auf einmal die Locken neben mir antwortet: »Junge, du weißt nicht, was geschehen ist, die Zeiten waren sehr, sehr schwer!« Und dann ergänzt sie: »Du bist damals, als es uns allen gut ging, einfach fort und nach Lhasa gefahren …«, als ich tränenüberströmt erwache.
Lhasa! Da kommst du doch gerade her! Schnell begreife ich, dass die ganzen Elche am eiskalten Osthorizont nur geträumt sind, aber: Was bedeutet das? Was will mir das alles sagen? Jeder Traum ist eine Botschaft aus der tiefen Seele. Das war bisher immer so.
Ich liege lange im Bett, bis ich begreife. Die in mir konkurrierenden Sehnsüchte liefern sich in meinem Unterbewusstsein einen bildstarken, turbulenten Kampf der Elemente. Ich habe die Mau zu Hause zurückgelassen. Schwanger. Und ich folgte meiner Sehnsucht, die Länder jenseits der heimischen Morgenröte zu entdecken. Die Mau fehlt mir – und ich fehle wohl der Mau. Der vernachlässigte Garten – das ist die Liebe. Die andere Sehnsucht.
Ich beginne den Traum zu begreifen als eine Warnung, etwas zu verpassen oder zu verwechseln. Habe ich vielleicht doch etwas vergessen? Gibt es da irgendetwas, das ich nicht beachtet habe? Weil ich es nicht erkennen kann aus irgendeinem Grund? Erwartet man von mirin irgendeiner Form immer noch mehr, als ich liefern kann? Und wenn ja, was ist es bloß, das alle seit meiner frühesten Kindheit anscheinend an mir vermissen?
Mir scheint es, als habe ich mit der Querung des Himalaya-Gebirges auf der Qomolangma-Strecke auch in mir eine Mauer durchfahren. Auf der anderen Seite wartet auf mich der Taj Mahal. Wie ein überdimensionaler Meilenstein steht er am Rand meiner Lebensstraße. Wie ein gewaltiger, mahnender Grenzstein des Landes der Liebe.
Eigentlich habe ich noch vorgehabt, bis nach Jaisalmer zu fahren, aber ein Gefühl sagt mir, fahr nach Bombay, heute Mumbai, und sieh zu, dass du nach Hause kommst. Besuche Indien später noch einmal. Dann wird es dir noch viel mehr Spaß machen, wenn du einmal deine ganze Familie dabeihast. Jetzt fehlst du ihr. Und die Mau fehlt hier.
Zu Hause geht die Zeit der Arbeitslosigkeit zu Ende. Ich
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