Kaktus zum Valentinstag
England gekommen wären, meint die Locken, als ich im Stress erst einmal die ganzen Bilder der Ahnengalerie neben der Treppe runterreiße.
Entgleisung nennen es die einen, Vulkanausbruch die anderen. Überforderung die Dritten. Womit sie alle irgendwie recht haben. Weil ich nun einmal nicht alles auf einmal machen kann. Mit mir geht das nicht.
Nach einem Kapellengottesdienst heißt es endgültig Abschied von Opa zu nehmen. Sein Körper zieht schließlich in eine Zweizimmerwohnung, die sich unter der Erde befindet. Das zweite Zimmer ist für die Locken vorgesehen. Die Tapeten dieser Wohnung sehen nur diejenigen, die die Zeit im Raum wahrnehmen können: Wir sogenannten Hinterbliebenen. Auch der Opa ist also jetzt ein Erblasser. Er ist steif geworden erblasst.
Nach der Beerdigung gehe ich noch einmal zu einem anderen Grab auf dem Friedhof. Es ist das Grab eines Menschen, der mir sehr ähnlich gewesen sein soll. Er desertierte im Zweiten Weltkrieg und wanderte zu Fuß sich durchklauend immer nachts etwa siebenhundert Kilometer nach Hause. Ich war sieben, als sein Körper in seine Einzimmerwohnung hier unter der Erde zog.
Onkel Hermann war früher immer der dumme Schlaue. »Der Junge kommt genau nach Onkel Hermann!« Oh, wie oft habe ich das gehört, vor allem immer dann, wenn ich zu doof, zu wütend oder zu schlau für etwas war. Onkel Hermann war arbeitslos und es hieß, er sei krank. Da seine Was-auch-immer-Krankheit auch kein Arzt kannte, war es für alle einfach die »Onkel-Hermann-Krankheit«.
Es macht mir heute zu schaffen, dass ich wohl aus Sicht anderer auch diese eigenartige »Krankheit« haben könnte. Dass diese Sache daran schuld sein könnte, dass ich so viele Dinge anders begreife als meine Mitmenschen. Aber wenn es wirklich so sein sollte, warum fühle ich es dann nicht als Krankheit? Seit meiner Kindheit weiß ich, dass ich einfach anders gepolt bin. Und um Onkel Hermann zu verstehen, war ich doch noch zu klein damals.
Später kehre ich noch einmal mit der Mau zurück zum Grab des braunen Brummelbären. Diesmal sind wir dort ganz allein. Unter uns. So probiere ich etwas Neues aus. Ich stelle mich vor den gehügelten Blumenhaufen, unter dem nun der körperlich gefüllte, hölzerne Sarg liegt. Es kostet mich einige Zeit, die innere Mauer zu durchbrechen. Schließlich gelingt es mir. Ich beginne zu singen, ob gerade oder schief, egal, ich weiß es nicht: I am sailing , weil ich das kenne und es irgendwie passt, und Hohe Tannen . Vor allem das zweite Lied hätte wohl das Gesicht des braunen Brummelbären zu Lebzeiten einfeuchten lassen, hat er doch seine schlesische Heimat immer im Herzen getragen.
Bedingungslose Liebe
Am Tag nach der Beerdigung zählt die Oma die Beileidskarten und stellt gesichtsrechnend fest: »Über 200 Karten hat der Opa gekriegt, weil er den Leuten immer so viel geholfen hat. Immer nur für andere Leute hat er gearbeitet! Wir haben immer zurückgesteckt! Ob das malalles so wird, wie ihr euch das vorstellt mit eurem Haus … Der Opa kann euch da jetzt nicht mehr helfen.«
Stille. In mir steigt wieder Magma auf: Mir traut man mal wieder gar nichts zu. Und alle wollen sie Einfluss nehmen auf das, was ich machen möchte. Warum muss die Locken nur immer wieder solche Platten auflegen? Sie leiert derweil weiter: »Du musst viiieeel menschlicher werden! Da musst du immer noch viel an dir arbeiten! Wenn du mal unter die Erde kommst, glaub man nicht, dass du so viele Karten kriegst! Ihr kriegt später mal nur fünf Karten: Eine von der Arbeit, eine von der Partei und drei von der Familie.«
Die Mau rennt nach draußen. Wenn die Mau wegrennt, ist sie meist wütend. Ich folge ihr und will wissen, ob das so ist und wenn ja, warum.
»So etwas Gemeines hat noch nie jemand zu mir gesagt!«, schnauft sie.
»Was meinst du damit?«, frage ich ahnungslos.
»Na das mit den fünf Karten! Sie meint ja uns beide damit«, erklärt die Mau.
»Was ist daran schlimm?«, will ich wissen. »Sie hat doch eigentlich recht.«
Mir fällt gerade auch niemand Weiteres ein, der eine Beileidskarte schreiben könnte, wenn ich tot wäre. Wenn ich tot wäre … Wenn ich tot wäre …
Opa tot, überfordert, kein Haus, menschlicher sein, fünf Karten, Mau sauer – das alles lässt mich schon wieder wie der überladene Arbeitsspeicher eines Computers tilten.
»Ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr!«, schreie ich. Dann laufe ich zur Ostgrenze von Andorra State und springe über den Maschendrahtzaun. Verlasse
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