Kaktus zum Valentinstag
draußen. Wieder muss ich erst einmal zu mir selbst finden. Mir meiner eigenen Gefühle klar werden. Was will ich? Was will ich nicht? Was ich will, ist schnell klar: Frieden im Haus. Eine liebevolle Familie. Menschliche Wärme. Und bedingungslose Liebe. Dann muss ich auch was geben. Und das loslassen, was ich kenne.
Bei dem Gedanken daran wird mir schließlich klar, dass ich nur deswegen den Winkel bevorzugen würde, weil er eine erweiterte und verbesserte Variante dessen ist, was mir vertraut ist: mein Elternhaus, das Haus der Papamamas, um ein Zimmer im Obergeschoss erweitert. Und alles ein bisschen schicker und moderner.
Der Würfel hingegen ist ein völlig neuer Entwurf. Eine ganz andere Anordnung, die zugegebenermaßen rational äußerst praktischund funktional ist. Und billiger obendrein. Bei gleicher Gemeinschaftsfläche, allerdings reduzierter Fläche in den Rückzugsräumen. Aber das Haus soll ja für die Gemeinschaft sein, der Rückzug soll die Ausnahme sein. Beim Lernen, beim Arbeiten, beim Schlafen soll man sich zurückziehen können. Aber nicht in der Freizeit. Die wollen wir gemeinsam verbringen. In der Stube. Im großen Garten. Auf der Terrasse.
Ich sehe, dass beide Lösungen für einen Hausentwurf ihre Vor- und Nachteile haben. Es also am Ende doch egal ist, welche Variante gebaut wird. Und da ich nicht mein ganzes Leben nur für die Finanzierung eines Hauses arbeiten möchte – das kann es nämlich nicht sein –, entscheiden wir uns nicht nur aus funktionalen, sondern auch aus Kostengründen schließlich nach langer Für-und-Wider-Diskussion für den Würfelentwurf.
Das verlorene Hähnchenbein
Weil wir ja im nächsten Jahr zu Weihnachten hoffentlich bereits in unserem eigenen Haus wohnen werden, steht nun für uns das letzte Weihnachtsfest in Nauheim an. So jedenfalls sieht es der Projektplan »Hausbau 2004« vor. Am rotgrünen 24. Dezember setze ich mich mit wenigen Minuten Verspätung zur Familie an den mit dem Essen gedeckten Tisch.
Es gibt zum Mittag vor dem Kirchgang am Abend das von mir bei der Mau bestellte und gewünschte Hähnchen. Es ist eines meiner Lieblingsessen. Und nun sehe ich auf meinem Teller zwar ein Stück Hähnchenfleisch, aber nicht, wie alle Zeit bisher üblich, eines der beiden Hähnchenbeine.
»Warum kriege ich jetzt heute kein Bein?«, will ich von der Mau wissen.
»Wir haben doch zwei Kinder. Beide wollen ein Bein haben. Deswegen habe ich diesmal die Beine den Kindern gegeben. Du kannst doch auch mal ein anderes Stück essen! So ein Hähnchen hat nun einmal nicht drei Beine!«
Zwei Kinder. RaRas. Ja, jedem von ihnen sei ein Bein gegönnt. Ich will es ihnen ja auch gar nicht mehr vom Teller nehmen. Die wollen es auch wirklich haben. Wieder einmal tobt in mir ein gewaltiger Kampfkonkurrierender Sehnsüchte. Die RaRas sollen es gut haben. Einerseits. Die sollen ihre Beine haben.
Aber ich brauche das Bein auch. Aber warum? Warum kann ich nicht einmal ein anderes Teil von dem Hähnchen nehmen? Ich versuche mich zu überwinden, den Kindern die Beine zu lassen. Damit sie nicht enttäuscht werden. Aber ich merke auch, dass das keine Lösung ist. In mir kommt es zu einem schweren emotionalen Sturm.
Ich beginne innerlich zu kochen. Die Magmakammer des Wutvulkans brodelt. Ich spüre, wie das flüssige Magma meines Inneren sich ganz allmählich Minute für Minute seinen Weg nach oben bahnt. Und ich weiß auch, wenn der Vulkan jetzt ausbrechen würde, wäre das Weihnachtsfest vorbei, bevor es angefangen hat.
An der Grenzlinie zwischen Wut und Frieden bilden sich schwere innere Turbulenzen. Ich möchte meine Wut ausleben, um zu leben, um mich von dem inneren Druck zu befreien, und ich möchte Frieden senden. Der Fuji, den sie alle bewundern, steht vor einem fatalen Ausbruch.
Am Esstisch herrscht gespannte Ruhe. Starre Stille. Eisige Gesprächsgefrornis.
Die Gedanken kreisen in mir. Ich spüre, dass es nur genau einen einzigen Weg gibt, die Katastrophe zu verhindern: Ich muss allein sein. Allein gelassen werden. Wortlos stehe ich vom Tisch auf, gehe in den Flur, schnappe mir den dort ordnungsgemäß in der Schublade abgelegten Autoschlüssel, setze mich ins Auto und fahre weg. Sollen die doch ihr Weihnachten alleine feiern. Ausgerechnet auch noch an Weihnachten das erste Mal im Leben Hähnchenessen ohne Bein, das geht gar nicht. Nein – nein – nein – und nochmals nein. Ende. Aus.
Straßen, die Therapie, der Exit. Während die Leitpfosten an mir vorbeiziehen, ich
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