Kalifornische Sinfonie
Augenhöhle aus viel weiterer Entfernung zu treffen. »Tretet zurück, Boys«, rief er, »ich werde es euch beweisen.«
Garnet wand ihr Kleid aus und fand plötzlich gar nichts Grausiges mehr an der Sache. Sie sah Florinda an, und beide lachten, als hätten sie den gleichen Gedanken gehabt.
»Sie sind dumme Jungen«, lachte Florinda, »sie wollen ihren Spaß haben.«
»Ja«, sagte Garnet, »sie sind wie die Kinder.«
»Kinder, die kein Spielzeug haben, machen sich eins aus allem, was sie gerade finden«, sagte Florinda.
Garnet wurde wieder ernst. »Wie man es auch sehen will«, flüsterte sie, »es sind keine Menschen mehr; es sind Knochen. Die Boys würden alles tun, um lebende Menschen zu schützen. Als die Mexikaner im vergangenen Jahr hier überfallen wurden, haben Yankees die Digger unter Einsatz ihres eigenen Lebens gejagt; sie würden das jeden Augenblick wieder tun, ohne eine Minute zu zögern. Wenn man einmal tot ist, ist man tot. Toten kann man nichts mehr anhaben.«
Mr. Penrose kam zu ihnen herangeschlendert; er trug ein Gewehr in der Hand. »Florinda«, sagte er, »du bist ein braves Mädchen. Ich habe schon lange kein sauberes Hemd mehr angehabt. Wie ist das: Riecht es nicht schon nach Essen?«
»Es scheint so, Mr. Penrose«, sagte Florinda, »ich kann die Wäsche nachher fertigmachen; lassen Sie uns zusehen, ob es schon etwas gibt.«
Garnet breitete ihre Sachen zum Trocknen aus. Während des restlichen Tages lag sie träumend auf einer Decke und dehnte die Glieder. Es war wunderbar, einmal still liegen und faulenzen zu können. Bei Einbruch der Dunkelheit sah sie den Männern zu, die die Wachen ablösten; dann kroch sie beruhigt in ihr Sattelhäuschen, um sich schlafen zu legen.
Sie schlief ausgezeichnet. Da sie aber schon während des Tages viel Zeit zur Ruhe gehabt hatte, erwachte sie, als es noch dunkel war. Oliver, der während der Nacht eine Wache gehabt hatte, schlief noch fest. Sie bewegte sich sehr vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, und hob die vor dem Eingang hängende Decke etwas an. Die Sterne standen noch am Himmel. Das Lager war ruhig; hier und da schrie ein Maulesel. In einer Ecke des Sattelhäuschens stand ein Eimer mit Wasser. Er war nur halb voll, aber es reichte ihr. Sie wusch sich und kleidete sich an. In wenigen Minuten würde das Lager zum Leben erwachen; dann würde es Kaffee geben. Sie war hungrig.
Sie hatte ihr Kleid schon an und war eben dabei, ihren zweiten Schuh zuzubinden, als irgendwo draußen ein langer, scharfer Pfiff ertönte. Oliver fuhr auf seinem Lager hoch und richtete sich auf. »Mein Gott!« flüsterte er, »das Signal!«
Bevor Garnet noch antworten konnte, krachte ein Schuß, dem ein zweiter fast unmittelbar folgte; Sekunden später krachte eine ganze Salve. Oliver riß die das Dach bildende Decke herunter, ergriff sein Gewehr und sicherte über den Rand der Sattelwand hinweg. »Deine Pistole, Garnet«, sagte er, »ein Diggerüberfall!«
Garnet hielt die Pistole in der Hand. Sie kniete neben Oliver. Sie hörte das Krachen der Schüsse und die raunenden Stimmen der Männer. Die Dämmerung hing wie ein fahlgrauer Streifen unter den Sternen. Sie sah dunkle Gestalten schattenhaft dahingleiten und hörte zwischen den Schüssen hier und da einen Schrei. Sie preßte die Zähne zusammen und spürte, wie ihr der Schweiß von den Achselhöhlen herunterlief. Eine Stimme in ihrem Kopf sagte:
»Das ist es, Garnet. Du hast so lange damit gerechnet, daß du es nun fast schon nicht mehr erwartetest: ein Indianergefecht! Und du wirst schießen, Garnet. Du wirst nicht schreien und nicht zittern, und du wirst dich nicht im geringsten wie eine Dame benehmen. Du wirst schießen müssen!«
Draußen wuchsen die Geräusche des sich entwickelnden Gefechtes und schwollen zu einem ungeheuren Lärm. Aus allen Sattelhäusern heraus wurde geschossen. Die Männer hatten die rückwärtigen Wände der Häuschen weggestoßen und nach vorn geschoben, um sich auf diese Weise eine solide Brustwehr zu schaffen. Auch Oliver riß, mit der rechten Hand das Gewehr haltend, mit der linken die Rückwand des Sattelhauses ein; er brauchte Bewegungsfreiheit, um zielen und schießen zu können. Er gab über die Seitenwand hinweg mehrere Schüsse ab, legte die Pistole bereit und lud das Gewehr von neuem.
Draußen stampften und brüllten die Tiere; es wurde heller. Garnet sah jetzt, vorsichtig hinauslugend, dunkle Gestalten, die sich kriechend auf das Lager zubewegten; sie sahen in der fahlen Helle
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