Kalix - Die Werwölfin von London
hatte er seltsamerweise einen Moment lang den Eindruck, er hätte eine Hiyasta gerochen. Das war unmöglich. Kein Feuergeist würde es wagen, auf den heiligen Boden der MacRinnalchs vorzudringen. Er schnupperte noch einmal und beschloss, er müsse sich getäuscht haben.
Als er seine Deckung verließ und die Burg sah, stürzten wieder Erinnerungen auf ihn ein. Unglückliche Erinnerungen, bei denen er am Ende gedemütigt und verbannt wurde. Was hatte er in dieser kalten, verlassenen Nacht eigentlich hier verloren? War er wegen der Beerdigung gekommen? Um dem Werwolf, der ihn verbannt hatte, die letzte Ehre zu erweisen? Vielleicht. Der Tod eines Fürsten war ein bedeutsames Ereignis für den Clan. Gawain war davon genauso bewegt wie jeder andere. Oder war er hier, um sich am Tod des Werwolfs zu weiden, der ihm solches Leid bereitet hatte? Das glaubte Gawain nicht. Seine Wut über das Vorgehen des Fürsten war zum größten Teil verraucht. Er glaubte jetzt zu verstehen, warum der Fürst so gehandelt hatte.
Gawain wusste, warum er hier war. Er hoffte, einen Blick auf Kalix erhaschen zu können. Gawains Sehnsucht nach Kalix war ebenso groß wie seine Scham über ihre ganze Beziehung und seine Vertreibung. Er wusste, dass es nicht richtig gewesen war, sich mit der Tochter des Fürsten einzulassen. Sie war zu jung.
Und selbst wenn sie älter gewesen wäre, hätte der Clan einer solchen Verbindung nie zugestimmt.
Obwohl sein Prozess extrem demütigend gewesen war, schämte Gawain sich aus einem anderen Grund. Er fühlte sich entsetzlich schuldig, weil er zugelassen hatte, verbannt zu werden. Er hätte bei Kalix bleiben und sich nicht wegschicken lassen sollen. Er hätte ihnen die Stirn bieten sollen. Er hätte Kalix nicht im Stich lassen dürfen.
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Gawain war damals selbst erst neunzehn gewesen. Für einen neunzehnjährigen Werwolf war es nicht einfach, sich dem Fürsten und seinem ganzen Haushalt zu widersetzen. Gawain hasste sich dafür, dass er sich nicht mehr angestrengt hatte. Seit damals war er durch das Land gestreift. Uber Kalix hatte er nichts erfahren. Er wusste nicht, ob sie noch in der Burg war. Aus dieser Entfernung konnten nicht einmal seine geschärften Sinne Kalix' Geruch ausmachen. Auf dem Anwesen hielten sich zu viele Werwölfe auf, und über der Burg selbst lag ein Zauber, der den Geruch der Wölfe dämpfte, um ihre Feinde zu täuschen.
Wenn sie noch in der Burg lebte, würde sie sicher im Trauerzug mitgehen.
Gawain war fest entschlossen, sie wiederzusehen, egal, um welchen Preis.
57
Um drei Uhr morgens lümmelten Kalix, Daniel und Moonglow gemütlich im Wohnzimmer herum, umgeben von Bergen aus leeren Essensverpackungen, Plattencovern, CD-Hüllen und allerlei Zeug, das in ihrer neuen Wohnung noch keinen festen Platz gefunden hatte. Alles hätte wie in einer durchschnittlichen Studentenbude ausgesehen, wäre nicht eine von ihnen eine Werwölfin gewesen.
Schon seltsam, dachte Moonglow, dass Kalix sich zum ersten Mal halbwegs wie ein normaler Mensch benahm, während sie gar nicht wie ein Mensch aussah.
Jedenfalls hatten Fleisch und Pizza sie in bessere Laune versetzt. Ebenso wie die Runaways, obwohl Moonglow Daniel nach ein paar Stunden angefleht hatte, etwas anderes aufzulegen, weil sie es kaum noch ertragen konnte. Kalix hatte wütend geknurrt, aber als Daniel ihr erklärt hatte, dass bei Menschen normalerweise nicht stundenlang die gleiche Platte lief, 113
hatte sie widerwillig zugestimmt, sich etwas anderes anzuhören. Moonglow fing Daniel auf dem Weg zu seinen Musikregalen ab.
»Nichts Lautes. Es ist drei Uhr morgens«, sagte sie.
»Na gut«, meinte Daniel, der selbst guter Laune war. Kalix benahm sich nicht verrückt, und Moonglow hatte die Nacht nicht bei Jay verbracht. Das reichte schon, um Daniel fröhlich zu stimmen.
Auch Moonglow war zufrieden. Nachdem sie sich so viel Mühe gegeben hatte, Kalix zu retten, war es schön zu sehen, dass Kalix endlich auf die Hilfe ansprach. Kalix würde ihr Leben bestimmt viel leichter finden, nachdem sie jetzt ein neues Amulett hatte, das sie schützte, und ein paar nette Menschen, bei denen sie wohnen konnte. Moonglow ging davon aus, dass Kalix bei ihnen einziehen wollte. Das musste doch besser sein, als sich in schmalen Gassen zu verstecken und in Lagerhäusern zu schlafen.
»Was ist das für Musik?«, fragte Kalix.
»Kate Bush«, antwortete Moonglow.
»Das ist scheußlich«, sagte Kalix, die nie gelernt hatte, sich taktvoll zu benehmen.
»Du
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