Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Gewalt den Mund auf, und der Kardinal schüttete ihm die Weinmischung in die Kehle. Er versuchte, sie auszuspucken, doch sie ließen es nicht zu. »Nehmt ihn mit«, befahl Chretien.
Noch ehe man ihn fortzerren konnte, fragte Luc: »Warum? Warum habt Ihr mich Sybille befragen lassen?«
»Weil sie es verdient hat, dich erlöst zu sehen«, ereiferte sich der Kardinal. »Weil sie wissen soll, dass sie verloren hat, noch ehe sie stirbt. Die Schuldigen können nie genug bestraft werden, Michel, nie genug. Gott war gerecht, als er die ewige Hölle schuf.«
Zur Zimmerflucht des Kardinals gehörte eine winzige Kammer, gerade groß genug für eine Bettstatt. Luc wurde darin eingeschlossen, und sosehr er sich gegen die Wirkung des Schlaftrunks wehrte, indem er stehen blieb, musste er sich bald hinsetzen. Es dauerte nicht mehr lange, bis er sich hinlegte. Die Schmerzen in der Schulter ließen nach, sein Atem wurde langsamer. In der vollkommenen Dunkelheit wich sein Kummer über Vater Charles und das Grauen über Sybilles bevorstehende Hinrichtung einem Gefühl der Taubheit, und als Luc schließlich die Augen schloss, tauchte als Letztes das Bild des Kardinals vor ihm auf, der den Becher in der Hand hielt, und sein rundliches Gesicht nahm allmählich unzweifelhaft Edouards scharfe Züge an: »Trink ...«
T eil VIII
XX
»Michel, mein Sohn«, weckte Chretien ihn mit volltönendem, tiefem Bass. »Es ist so weit, du musst mich begleiten.« Anders als sonst in eine einfache Kutte und einen Umhang gekleidet, streckte der Kardinal seinen Kopf in die Kammer, in der Luc geschlafen hatte. Hinter ihm standen die beiden Wachen, die Luc am Abend zuvor gewaltsam festgehalten hatten, und hinter ihnen hielt Thomas eine Lampe hoch, um Licht auf den Gefangenen zu werfen.
Luc richtete sich auf und stöhnte vor Schmerzen, als sich der blutgetränkte Verband von seiner Schulterwunde löste. Zunächst wusste er nicht, wo er war. Er stützte den Kopf in die Hände und versuchte langsam, seine Gedanken zu sammeln. Obwohl er aufgrund des Trankes viel von seinen Träumen vergessen hatte, wusste er, dass er die ganze Nacht mit ihnen gekämpft hatte - schreckliche Träume von Chretien, von Sybille auf dem Scheiterhaufen, von Edouard ...
Trink.
... und von Jakob.
Die wahre Vereinigung kann nicht mit Furcht im Herzen vollzogen werden.
Chretien wandte sich an die Wachen. »Bringt ihn her.«
Luc schwang die Beine über den Rand der Bettstelle und stand auf - zu schnell, denn Schwindel zwang ihn, sich sofort wieder zu setzen.
Einer der Wächter steckte das Schwert in die Scheide und schob eine starke Schulter unter Lucs gesunden Arm. Mit dieser Hilfe war der verwundete Mönch imstande, schwankend zu gehen, während der zweite Wächter ihn mit gezückter Waffe flankierte.
Als hätte ich eine Chance, zu fliehen, dachte Luc, noch benebelt von der Droge.
Dann sah er durch das große Fenster, dass es noch stockfinstere Nacht war und dunkle Wolken das Mondlicht verschluckt hatten.
Bis zur Morgendämmerung dauerte es noch Stunden, und diese eigentlich unbedeutende Beobachtung brachte Luc schlagartig Klarheit. Seine Gefühle drohten ihn zu überwältigen.
Sie nehmen mich mit, weil ich zusehen soll, wie sie stirbt, erkannte er. Chretien wollte die frühe Stunde nutzen, um den Zorn der Bürger nicht auf sich zu ziehen. Gegen Morgen, wenn die Zuschauermenge sich auf dem Richtplatz versammeln würde, wäre dieser längst verlassen und der Kardinal säße zweifellos bereits in seiner Kutsche auf dem Weg nach Avignon.
Gemeinsam verließen die Männer den Palast des Bischofs. Die Luft war feucht und kalt. Es roch nach bevorstehendem Regen.
Verzweifelt beschloss Luc, seine Kraft zu testen. Er gab sich einen Ruck, drückte sich vom Wächter ab und hoffte auf das Unmögliche: dass er aus reiner Willenskraft laufen könnte, dass er als Erster bei Sybille wäre, dass er sich irgendwie eine Waffe beschaffen und sie befreien könnte. Kaum hatte er sich vom Wächter gelöst, sackte er mit einem Schreckenslaut in sich zusammen und war gerade noch in der Lage, sich mit ausgestreckten Armen davor zu bewahren, die restlichen Stufen hinunterzufallen.
Chretien lächelte schwach. Thomas, dessen Augen im Laternenlicht weit und finster wirkten, zeigte keine Reaktion, als Luc sich von dem belustigten Wachposten aufhelfen lassen musste, zu wütend und zu verzweifelt, um eine so unbedeutende Empfindung wie Verlegenheit aufkommen zu lassen.
»Verausgabe dich nicht, mein Sohn«,
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