Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Kopf - fachte die von der Wache entzündete Flamme weiter an und setzte mit kaum hörbarem Knistern das Holz unter der Äbtissin in Brand.
War die Nacht bis dahin nur von dem zarten Schein der Laterne erhellt worden, so beleuchtete nun das sich ausbreitende Feuer Sybilles kniende Gestalt und strahlte sie an, dass es schien, es gebe auf der Welt nur sie allein: Ihr Gesicht, ihr Körper und ihre grellweiße Leinenkutte zeichneten sich deutlich vor der Dunkelheit ab.
Und trotz der ihn überwältigenden Gefühle und der Gedankenwirren in seinem Kopf vernahm Luc eine Stimme, leise und kaum hörbar. Sie flüsterte: Geh zu ihr. Gewiss war es nur sein Herz, das zu ihm sprach, denn er wollte nichts lieber tun, doch es wäre Irrsinn. Man würde ihn sofort niederschlagen, und die Zukunft ihres Geschlechts wäre besiegelt.
Geh zu ihr, sagte die Stimme wieder, und plötzlich war er fest überzeugt, dass es nicht seine Stimme war, nicht die Stimme des Feindes, sondern vielmehr jene, die er seit langem nicht mehr gehört hatte.
Mit einer Kraft, die reinem Willen entsprang, riss Luc sich von der Wache los und lief auf unsicheren Beinen auf die Flammen zu. Es kümmerte ihn nicht mehr, ob er unempfindlich war gegenüber Feuer, Eisen oder dem Angriff des Feindes. Für ihn zählte nur der Versuch, sie zu retten, ihr Leid zu mildern, bei ihr zu sein.
Und als Luc die Hand nach ihr ausstreckte und die glühende Hitze der Flammen spürte, bohrte sich kaltes Metall in seinen Rücken. Hinter ihm schrie Chretien: »Narr! Du hast ihn getötet!« Ein scharfer Schmerz durchzuckte Luc, als das Schwert aus seinem Rücken gezogen wurde. Er sank zu Boden, der noch heißer war als das Blut, das ihm aus der tödlichen Wunde schoss, doch er spürte keine Furcht, sondern blickte auf zu Sybille. Im Dominikanerkloster zu Avignon hatte er oft vor einem kleinen Terrakottaschrein zur Jungfrau Maria gebetet, nur zu Maria, nicht zu ihrem Kind. Sie stand in einer schmalen, bogenförmigen Nische, ihre Arme hingen entspannt an den Seiten herab, und nur die Handflächen waren nach vorn gerichtet, als wollte sie die Welt begrüßen. Vor ihren winzigen, zarten Füßen stand eine Opferkerze. Und wenn abends der Docht angezündet wurde, erfüllte das nach oben strahlende Licht ihre glückseligen, durchscheinenden Züge mit einem unirdischen Glanz. Ja, der Glanz schien aus ihrem Innern zu kommen und die Nische auszufüllen wie ein Kirchenfenster. Ein Wunder, hatten die Brüder entschieden, weshalb der Schrein regelmäßig mit Blumen, Opfern und Gebeten bedacht wurde.
Luc schien es nun, als strahlten Sybilles Züge dieselbe Heiterkeit aus, dasselbe, allumfassende Mitgefühl, ein goldenes Licht, das sie wie ein bogenförmiger Schein umgab. Und wenn ihre Arme nicht grausam durch die Ketten nach hinten gezerrt gewesen wären, so hätte sie ihre Hände begrüßend geöffnet, selbst ihrem Feind Chretien. Obwohl er, Luc, in der Dunkelheit lag und sie vom plötzlichen starken Licht geblendet sein musste, schaute sie ihn an - blickte ihm tief in die Augen - und lächelte zuversichtlich und ohne Furcht, als sie ihren Geliebten getroffen vor sich liegen sah. Da erinnerte Luc sich an sie auf dem Feld bei Poitiers, als sie die Hand auf sein Herz gelegt hatte, und wurde von blinder Freude ergriffen.
»Gegrüßet seist du, Maria«, rief er ihr zu, nicht mit der Demut des Sünders, sondern mit dem Jubel des Gläubigen, »voller Gnade! Der Herr sei mit dir! Du bist gebenedeit ...«
Der Wind heulte auf, als trauerte er bereits, und fegte mit der Heftigkeit eines Wirbelsturms durch die Gasse. Das Feuer loderte auf und verzehrte gierig Reisig und Zweige. Doch mit dem Wind kam spärlicher Sprühregen. Ein kalter Tropfen traf Luc auf die Wange.
Doch die Tropfen blieben vereinzelt, und der Wind ließ die Flammen von den Scheiten zu Sybilles Leinenhemd auflodern, das Feuer fing. Orangefarbene Flämmchen züngelten am Saum entlang und hinterließen schwebende Asche. Mühsam versuchte Luc, den Kopf hochzuhalten, am Leben zu bleiben, damit Sybilles Opfer für das Geschlecht nicht vergeblich wäre, doch es gelang ihm nicht. Mit einem tiefen Seufzer schloss er die Augen und legte die Wange auf den Boden.
»Hört mich, Feind!«, forderte Sybille mit einer Stimme, die stärker war als ihre eigene, und Luc zwang sich erneut, aufzuschauen.
Sybille blickte entschlossen geradeaus, doch ihre Augen schienen bereits das Jenseits zu sehen, als schaute sie etwas viel Größeres als eine Gasse oder
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