Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
riet ihm der Kardinal. »Denn du hast noch einiges vor dir.«
Sei auf der Hut, sagte sich Luc und versuchte, das frische Blut nicht zu beachten, das durch seinen Verband drang. Eine andere Fluchtgelegenheit würde kommen, musste kommen, sonst war dies die letzte Stunde der Freiheit für seinen Geist und sein Herz, die letzte Stunde der Hoffnung des ganzen Geschlechts.
Der Himmel über der Straße war dunkel und noch ohne ein Anzeichen der heraufziehenden Morgendämmerung. Luc konnte kaum etwas erkennen, nur schemenhafte Gestalten, die aus der Richtung des Gefängnisses kamen und in der Dunkelheit nahe an ihnen vorbeigingen, sowie ab und zu ein kurzes Aufblitzen der silbernen Mondscheibe, die sogleich wieder hinter schwarzen, schnell dahinziehenden Wolken verschwand.
Es schien passend, dass seine Welt, so wie sie war, ohne Sybille nicht weiter existieren würde. Seine Liebe für sie war so stark, dass ihm das eigene Schicksal unbedeutend schien angesichts der noch größeren Tragödie seiner Geliebten.
Wind kam auf und wirbelte ihm Sand in die Augen. Luc taumelte, geblendet, doch der starke Arm der Wache hielt ihn. Luc wusste bald nicht mehr, wie lange er schon so unter Qualen dahingewankt war, sich die Augen rieb.
Als schließlich Tränen ihm die Sicht wieder freigemacht hatten, sah er, dass sie nicht zum Richtplatz gegangen waren, sondern sich, soweit Luc es beurteilen konnte, in einer Gasse hinter dem Gefängnis befanden.
Nur wenige Schritte entfernt kniete Sybille mit dem Gesicht zu den Inquisitoren bereits auf einem Scheiterhaufen. Eine päpstliche Wache war damit beschäftigt, ihr die Fesseln zu schließen und sie fest an den Pfahl zu binden, um den zwei andere letztes Anzündholz und Reisig schichteten. Im trüben, schwankenden Licht, das aus Thomas' einsamer Laterne fiel, konnte Luc Sybilles Gesichtszüge nicht ausmachen, sondern nur den dunklen Umriss ihres Kopfes und der Schultern, sowie das helle Leinen ihres Unterkleids.
Das darf nicht sein, dachte er. Es muss noch einen Ausweg geben. Lieber Gott, schenk uns noch eine Chance. Gequält von ihrem Anblick, konnte Luc einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken.
Kurz darauf hatten die Wachen die Reisigbündel bis zu ihren Hüften aufgehäuft. Einer nahm einen langen Kienspan und trug ihn zu Thomas, der das Glas seiner Laterne öffnete.
Erneut kam eine Windbö auf, so stark, dass Luc die Augen vor dem stechenden Sand schloss, und als er sie wieder aufschlug, war die Flamme in der Lampe nur noch ein winziges blaues, blakendes Licht mit goldener Spitze, das zu erlöschen drohte. Dann legte sich der Wind so plötzlich, wie er aufgefrischt hatte, und die Wache hielt das mit Pech getränkte Holzstück an den Docht, Lampe und Holzspan flammten hell auf.
Auch auf Thomas' Gesicht fiel der Schein. Und mit der Hellsichtigkeit, eines Menschen, dessen Gefühle aufgewühlt sind, bemerkte Luc den flüchtigen Ausdruck tiefen Kummers auf dem Gesicht des jungen Priesters. Kein anderer bemerkte es, weder Chretien noch die Wachen, doch im Schutz der Dunkelheit warf Thomas einen ermutigenden Blick in Lucs Richtung.
Er ist einer von uns, war es schon immer, dachte Luc plötzlich aufgeregt. Vielleicht lag da die Hoffnung, vielleicht würde Thomas sich weigern, den Scheiterhaufen anzuzünden ...
Doch mit einem Mal verhärteten sich Thomas' Gesichtszüge, und er ließ die Lampe sinken, um zuzuschauen, wie die Wache sich bückte und das brennende Scheit an das Reisig um Sybilles Füße und Beine hielt.
Chretien war bereits zwei Schritte zurückgetreten.
»Domenico!«, rief Sybille mit furchtloser, starker Stimme. »Du glaubst, du hättest endlich gewonnen? Siehst du es nicht? Die Liebe hat wieder gewonnen, um stärker zu sein denn je.«
Luc begriff sofort: Es waren dieselben Worte, die ihre Großmutter in der Stunde ihres Todes gerufen hatte. Sybille tat jetzt für ihn, was Ana Magdalena für sie getan hatte. Sie überließ sich dem Opfertod, damit er die höchste Weihe erlangte - all ihre Macht und eine Erneuerung seiner Kräfte, damit er den Feind besiegen konnte. »Geliebte«, flüsterte Luc, vermochte aber nicht mehr weiterzusprechen. Bei der Erkenntnis der Tiefe ihres Mitgefühls, ihres Mutes spürte er, wie sein Herz sich öffnete und überlief, wie seine Liebe sich von den Hemmnissen seines Körpers befreite, die Entfernung zwischen ihnen überbrückte, und sie berührte.
Der Wind - ähnlich dem Windstoß in der Nacht von Sybilles Geburt, schoss es Luc durch den
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