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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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einem geheimen Gemach. Erst dann wagte er einen zögernden Schritt hinein und winkte die anderen zu sich.
    Der Raum war überraschenderweise größer als die vorherigen, die Wände verputzt, mit Holz getäfelt und mit zarten Rosen bemalt. Eine ganze Wand war mit dicken Fadensträngen in Scharlachrot, Kurkurmagelb, Indigoblau und Waldgrün behängt. In einer Ecke stand ein riesiger Webstuhl, auf dem gerade ein Wandbehang entstand, er stellte mehrere Frauen dar, die leuchtende Orangen von einem Baum pflückten. Ein wunderbarer Duft, der allerdings mit einem schwachen pflanzlichen Geruch nach den gefärbten Wollsträngen durchzogen war, strömte ihnen entgegen. Der Steinboden war mit Lavendel, Poleiminze, Rosmarin und den Blütenblättern rosa und weißer Rosen übersät, die überall in Vasen standen.
    Mittendrin saß eine Frau mit dem Rücken zu ihnen an einem Spinnrad. Als die Männer eintraten, zeigte sie nicht die geringste Reaktion. Doch als der Mann sagte: »Madame Beatrice. Ich habe Euch Euren Sohn gebracht.«, wandte sie sich mit erschreckend ausdrucksloser Miene zu ihnen um. Doch als sie das Kind erblickte, ging ein Leuchten über ihr Gesicht. Sie war eine schöne Frau mit ebenmäßigen Zügen wie eine römische Statue und ebenso blasser Haut. Die goldenen Zöpfe waren über den Ohren eingerollt, und ihre Augen waren von erstaunlich dunklem Grün. Sie trug ein Unterkleid aus cremefarbener Wolle, darüber einen Kittel aus blasslila Seide.
    Wortlos erhob sie sich vom Spinnrad, kniete nieder und breitete beide Arme aus. Der Junge drückte sich impulsiv von der Brust seines Vater ab und wollte zu ihr hinlaufen, doch zu seiner Enttäuschung hielt der Vater ihn fest, und der Diener trat zwischen die Frau und ihr Kind.
    »Du kennst die Regel, Luc«, ermahnte ihn der Vater. »Du musst die ganze Zeit neben mir bleiben. Verstanden?«
    »Ich verspreche es, Papa«, erwiderte der Junge mit piepsiger Stimmer. Nun setzte der Vater ihn ab, ließ aber eine Hand auf der Schulter des Knaben ruhen, um ihn jederzeit zurückhalten zu können.
    Die Mutter neigte geschmeidig und mit düsterem Blick den Kopf zur Seite und musterte ihren Gatten aus zusammengekniffenen Augen, in denen etwas Unheilvolles, Wildes aufblitzte. Luc kam es vor, als glühten sie wie die Augen einer Katze bei Nacht.
    Zugleich redete sein Vater mit erzwungener Fröhlichkeit drauflos. »Luc, sing doch das Lied, das Onkel Edouard dir diese Woche beigebracht hat!«
    Langsam ließ Madame Beatrice die Arme sinken und sah dabei so unglücklich aus, dass der Junge am liebsten losgeweint hätte. Luc begann das gewünschte Lied anzustimmen, es war traurig und handelte von den Kreuzzügen, von einem armen Pilger, der in ein fremdes Land kommt und vielleicht nie zurückkehren wird:
    Chanterai por tnon coraige,
    Que je vuil reconforter,
    Ne quier morir näfoler,
    Quant de la terre sauvage,
    Ne voi mais nul retorner.
    Während er mit seiner klaren, hohen Stimme sang, bemerkte er, dass ihre Miene zunächst noch trauriger, dann erregt wurde. Schließlich begann sie zu seinem Entsetzen zu weinen und stürzte an dem Diener vorbei auf ihn zu.
    Sofort brachte der Vater den Jungen außer Reichweite der Frau. »Das genügt. Deine Mutter braucht jetzt Ruhe.« Er eilte zur Tür hinaus, während der Diener Madame Beatrice in Schach hielt. Sobald auch der Diener sich in Sicherheit gebracht hatte, wurde die Tür verriegelt, doch Luc konnte das Klagen deutlich hören: »Luc, mein Luc ...«
    Kein anderes Wort kam über ihre Lippen, doch als sein Vater ihn durch das Zimmer der Zofe auf den Korridor brachte, erhob sich ihre Stimme zu einem wilden Aufschrei.
    »Luc ...«
    Und der Junge weinte, weil er nicht verstand, warum das Leben nicht schöner und einfacher sein konnte, warum seine Mutter von ihnen getrennt lebte, warum er nicht zu ihr laufen konnte, wenn sie ihn anlächelte und die Arme ausbreitete. Er weinte und barg sein Gesicht am Hals des Vaters, während er in das Turmzimmer getragen wurde, in dem das Feuer im Kamin brannte und den Durchgang wärmte und welches das Gemach der Hausherrin mit dem des Hausherrn verband. Sein Elend wurde noch durch die Erkenntnis verschlimmert, dass sein Vater nicht nur über seine gequälte Frau nachgrübelte. Seine Sorgen hingen wie dichter Rauch in der Luft, und das Kind, das sensibler als die Erwachsenen war, las nicht nur in Augen und Gesicht, Händen und Körpern, sondern hörte auch jedes unausgesprochene Wort.
    Obwohl niemand mit Luc darüber

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