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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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es ist, vollkommen in Feuer eingetaucht zu sein? Unaufhörlich windet sich der Körper und ist nicht imstande, dem Schmerz auszuweichen, der unerträglich ist, der alle Gedanken auslöscht, alle Gefühle, alle Erinnerungen, bis nur noch dieser Schmerz vorherrscht, kein Ich mehr, keine Welt ... Meine Stimme vereinte sich mit denen der anderen zu einem unaufhörlichen Chor, während Nonis Unterkleider zu Asche wurden, als glühende Funken durch die Luft segelten und die von der Hitze gerötete Haut darunter entblößten. Das Feuer fraß den Stoff bis zu den Schultern, ging dann an Hals und Kinn vorbei zur Kopfhaut über, wo es zu einem wahren Pfingstfeuer aufloderte. Mitten in meinem unerträglichen Leid merkte ich, dass die Stimme meiner Großmutter nicht mehr unter den Schreienden war, und ich blinzelte mit tränenden Augen zu ihr hinüber.
    Noni war zu einer lebendigen Flamme geworden, sie war kein verkohltes, armseliges Opfer wie die anderen Gefangenen, sondern eine Verkörperung des Göttlichen, eine strahlende Frau, jung, schön, stark, weiß und glühend. Die Flammen bildeten nun eine goldene Aureole. Ich erkannte, dass ich nicht auf eine Heilige schaute, sondern auf die Fleisch gewordene Göttin selbst, die triumphierend lächelnde Göttin. Und die Tränen der Qual auf meinem Gesicht verwandelten sich in Freudentränen.
    Mit einer Stimme, welche die lieblichste Musik war, die ich je gehört hatte, sprach sie zum Feind, der das grausame Spektakel verfolgte: Du glaubst, du hast gewonnen, Domenico. Doch hier ist die Magie, der Sieg ist unser...
    Wie lange meine körperlichen Qualen anhielten, kann ich nicht sagen, denn es kam der Zeitpunkt, an dem ich zu schwach war, mich zu winden, zu schreien oder zu flüstern. Ich war nahezu erblindet. Die Pein hatte sich in einen bohrenden Schmerz in der Mitte meines Leibes verwandelt, als meine inneren Organe zu kochen begannen. Schließlich starb meine Großmutter. Zunächst löste sich der Schmerz abrupt von mir, dann spürte ich, wie ihr Geist hinüberglitt. Eine Woge knisternder Wärme kam über mich, als wäre sie in mich eingedrungen. Sie und etwas noch Größeres ...
    Ich muss gestehen, dass ich damals mit dem Verstand überhaupt nicht erfassen konnte, was geschehen war, doch mein Herz und meine Intuition hatten vollkommen verstanden, dass Nonis Opfer für mich - und in gewisser Weise mein Opfer für sie - ein notwendiger Austausch gewesen war. Andernfalls hätte ich mich mit meinem ganzen Wesen gegen ihren Tod aufgelehnt. An jenem Tag hatte ich hingegen die deutliche Vision, dass die Art und Weise ihres Todes eine große Ehre bedeutete, sie hatte ihre Bestimmung wirklich gern erfüllt, auch war sie ohne Schmerz und im Triumph gestorben.
    Diese Erkenntnis brachte Einverständnis und Frieden mit sich, und als die letzten Sonnenstrahlen die Wolken korallenrot färbten, fühlte ich mich durch die Gegenwart der Göttin und Nonis fröhlichen Geist getröstet.
    Doch auch ich bin nur ein Mensch, und als die Nacht hereinbrach, ließ der Beistand von Noni und Diana nach, und Kummer trat an ihre Stelle. Unruhig stand ich auf und begann zu laufen. Ich rannte, bis der Wald in ein Gebirge überging, immer weiter, bis ich mich nicht mehr rühren konnte und keuchend auf Steinen und Blättern und aromatisch duftender Erde zusammenbrach.
    Das Schicksal ist zuweilen grausam.
    Am Himmel türmten sich schwarze Wolken, und der Donner hallte mächtig von den Bergen wider. Als schließlich das Sommergewitter niederging, brach ich zusammen und begann mit dem einsetzenden Regen zu weinen.
TEIL III - MICHEL
CARCASSONNE Oktober 1357
IX
    Als Michel nach der Abendandacht zu Vater Charles' Zimmer zurückkehrte, wartete Priester Thomas vor der Tür auf ihn.
    »Gute Nachrichten«, verkündete Thomas, wiewohl sein leiser, bedrückter Tonfall genau das Gegenteil besagte. Der Schein der Fackeln glitzerte auf seiner verschwitzten Stirn, an der einige helle Haarsträhnen klebten. »Ich komme gerade vom Bischof. Er hat sich vorläufig mit deiner Ordination einverstanden erklärt, die als vollzogen betrachtet werden soll. Ein Brief mit entsprechendem Inhalt wird noch heute an den Erzbischof zu Toulouse geschickt. Es ist alles erledigt.«
    Michel seufzte, doch nicht vor Erleichterung. Thomas deutete mit dem Kopf auf die Tür und bemerkte traurig: »Es tut mir so Leid, dass es ihm nicht besser ergeht als meinem armen Schreiber, obwohl Gott sei Dank nicht noch mehr Brüder erkrankt sind.« Er hielt inne,

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