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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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erfundene Geschichte, doch sie hat zugegeben, keine Christin zu sein.« Er erwähnte allerdings nicht, dass er beabsichtigte, dieses Eingeständnis als Beweis dafür zu verwenden, dass sie keine relapsa war.
    Vater Thomas versetzte dem Arm des Mönchs einen tröstlichen Stoß. »Fahr mit deiner guten Arbeit fort, Michel. Wenn sie das Gefühl hat, dir vertrauen zu können, wird sie am Ende genug offenbaren, das ihre Verurteilung gewährleistet. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.« Er hielt inne. »Rigaud hat mir auch gesagt, Kardinal Chretien sei auf dem Weg hierher.«
    »Tatsächlich?«, fragte Michel und täuschte angesichts dieser unerwarteten Entwicklung Neugier vor, obwohl er äußerst erleichtert war, von der bevorstehenden Ankunft seines Vaters zu hören. Als Oberhaupt der Inquisition konnte Chretien jedes beliebige Verfahren an sich reißen, außerdem war er der Vorsitzende Kardinal bei Mutter Maries Verhaftung gewesen. Doch die Regel gebot, dass die Angelegenheit vom ortsansässigen Bischof behandelt wurde, also von Rigaud.
    Thomas nickte düster. »Er wird in den nächsten drei Tagen eintreffen. Er ist ... höchst besorgt darüber, dass Vater Charles krank ist, und will sich persönlich darum kümmern, dass der Fall der Äbtissin richtig gehandhabt wird. Dennoch ist Bischof Rigaud beunruhigt über den wachsenden Unmut des Volkes. Er glaubt, uns bliebe keine Zeit, bis zur Ankunft des Kardinals zu warten, und wir müssten die Hinrichtungen vorher ausführen lassen.«
    »Die Hinrichtungen ...«, wiederholte Michel verblüfft. »Thomas, gewiss billigt Ihr Rigauds Wunsch nicht, ein rechtmäßiges Inquisitionsverfahren außer Acht zu lassen und eine Gefangene zu verurteilen, noch ehe ihre Schuld ordnungsgemäß festgestellt wurde.«
    Verächtlich verzog Thomas das Gesicht. »Du bist ein größerer Narr, als ich dachte. Wie kannst du von Chretien erzogen worden sein und dir trotzdem eine solche Naivität gegenüber den Machenschaften der Kirche bewahrt haben?« Er hielt inne.
    »Tatsache ist, dass der Papst persönlich bedroht wurde und das ...«
    »Das muss erst noch bewiesen werden«, entgegnete Michel, doch noch ehe er den Satz beendet hatte, sagte Thomas so laut, dass er die letzten Worte des Mönchs übertönte: »Du wirst tun wie befohlen und sie für schuldig befinden. Oder deine Ordination wird widerrufen. Was ist dir lieber?«
    Ein langes, feindliches Schweigen folgte. Schließlich senkte Michel in gewohnter, aber unfreiwilliger Demut den Blick und erklärte: »Ich werde mich bemühen, so rasch wie möglich zu arbeiten.«
    Als die Nacht endgültig hereingebrochen war, kam Bruder Andre vorbei. Er bestand darauf, dass Michel an Vater Charles' Seite im Gästezimmer übernachtete, das weitaus bequemer eingerichtet war als die Zellen der Mönche. Der junge Schreiber hatte in der Nacht zuvor kaum geschlafen und war von den Anstrengungen des Tages völlig erschöpft, sodass er sich der Aussicht auf Behaglichkeit nicht widersetzte. Als Michel sich auf die weiche Matratze und in das kühle, tief einsinkende Kissen legte, schlief er sogleich fest ein. Und er träumte ...
    Er hatte die Wange an eine Schulter gelehnt, die unter einem muffig riechenden Wollgewand steckte, und das Gesicht einem gebräunten, faltigen Hals zugewandt, den er mit kleinen Händen umfasste - mit Kinderhänden. Er atmete einen merkwürdig vertrauten Geruch von Schweiß, sonnengewärmtem Haar und Pferden ein. Auf starken Armen wurde er durch einen geräumigen Steinkorridor getragen, an dessen Wänden goldene Gobelins hingen. Ein Diener mit einem Schwert an der Hüfte ging ihnen voraus, blieb abrupt vor einer großen, hölzernen, mit schwarzem Eisen beschlagenen Bogentür stehen und schob einen schweren Holzriegel zurück. Als die Tür sich nach innen öffnete, trat er ein und bedeutete dann dem Mann mit dem Kind, ihm zu folgen.
    Dort kniete eine Kammerzofe, die den mit einer Seidenhaube bedeckten Kopf so tief nach vorn geneigt hatte, dass man ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Der Raum war mit großen Stühlen und einem massiven Tisch möbliert, auch gab es ein paar silberne Kerzenleuchter, Polster aus rotem Samt und einige Wandteppiche. Zwei offene Bogengänge führten in weitere Räume, denen die Eintretenden jedoch keine Beachtung schenkten. Der Mann hielt das Kind fester und trat einen Schritt zurück, während der Diener sein Schwert zog und vorsichtig den Riegel einer kleineren Tür öffnete, die aussah wie der Zugang zu

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