Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Luc sich auf einem lärmenden Marktplatz wieder, auf dem Tausende Stimmen durcheinander schwirrten. Sein Vater flüsterte ihm ins Ohr: »Vergiss nie, was du jetzt sehen und hören wirst, und lass es dich daran gemahnen, unter allen Umständen darauf zu achten, was du sagst.«
Vor einem hölzernen Podium stiegen sie ab, auf dem sie vier Männer bereits erwarteten: zwei Vikare, ein Mönch und ein Priester namens Pierre Gui. Unterhalb von ihnen, in der freigeräumten Mitte des Platzes, ragten mehrere Holzpfähle aus dem Boden.
Der Himmel war strahlend blau und erinnerte den Jungen an den stechenden Blick seines Vaters. Luc zitterte, als er die Hand seines Vaters umklammerte und das Feuer beobachtete, Flammen, die in der Farbe des Blutes züngelten, Flammen, die lebendige Menschen in verkohlte, schwarze Leiber verwandelten.
Angewidert hatte Luc das Gesicht abgewandt, doch sein Vater drehte das Kinn des Jungen wortlos und mit fester Hand wieder zurück.
Also hatte er zugesehen, und als die Verurteilten schließlich gestorben waren und die Henkersknechte die verkohlten Leichen mit Stäben auseinander gebrochen hatten, damit sie schneller verbrannten, war er mit seinem Vater und dem Onkel zu einer kleinen Mahlzeit auf die Burg zurückgekehrt. Er konnte nur wenig zu sich nehmen, und selbst das erbrach er wieder.
Schwach und wie betäubt verkroch er sich an seinem Lieblingsplatz, einem Fenstersitz im Sonnenzimmer, das einen weiten Ausblick über das Anwesen und das Land jenseits seiner Mauern bot. Die Sonne hatte den kleinen Raum zwischen den Gemächern des Herrn und der Herrin erwärmt, und während Luc dort vor sich hin döste, hörte er seinen Vater und Onkel Edouard streiten.
Du hast also dem Jungen nichts gesagt. Er ist mein Sohn, Edouard, nicht deiner oder der deiner kostbaren Templer.
Sein Onkel senkte die Stimme, war aber noch deutlich zu vernehmen.
Um Himmels willen, Paul, wenn uns die Dienerschaft hört? Im Übrigen sind Namen unbedeutend. Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht mehr Templer bin als Katharer oder Mohr oder Christ - vielleicht bin ich sogar das alles oder nichts dergleichen. Die Wahrheit ist und bleibt die Wahrheit, ungeachtet dessen, welchen Namen du ihr gibst. Und die Wahrheit ist, dein Sohn ... Mein Sohn, denke daran.
Edouard seufzte. Ja, dein Sohn, Paul. Deiner und Beatrices. Und er kann dem nicht entgehen, was ihm ...
Papas Stimme wurde vor Wut lauter: Willst du, dass er verrückt wird wie seine arme Mutter? Oder geröstet wie ein quiekendes Ferkel, so wie diese armen Irren heute?
Edouard erwiderte ruhig: Es mag sein, Bruder, dass er ohne unsere Hilfe verrückt wird. Und es mag auch sein, dass er seine Gaben ohne Unterweisung unüberlegt in Gegenwart der falschen Menschen einsetzt. Schneller jetzt und lauter, da Paul einen Laut von sich gab, als wollte er ihn unterbrechen, fuhr er fort: O ja, er verfügt über Gaben, über ebenso viele wie seine Mutter, sosehr du die Tatsache auch verleugnen magst.
Paul war entsetzt: Wie kannst du nur so etwas sagen? Er hat nicht die geringsten Anzeichen gezeigt...
Du hast sie nicht bemerkt, weil du sie nicht bemerken willst. Nach einer langen Pause fügte Edouard hinzu: Paul. Gib mir den Jungen. Lass mich ihn ausbilden. Er ist nicht sicher hier, nicht, solange Beatrice in diesem Zustand ist. Sie dient unserem Gegner als Auge und Ohr, und je länger der Junge hier bleibt, umso größer wird die Gefahr, dass der Feind einen Weg findet, damit sie ... Plötzlich schluchzte sein Vater heiser auf: Wie kann ich ihn gehen lassen, wenn ich sehe, was aus seiner Mutter geworden ist? Sag mir, was hat sie getan, womit hat sie solche Qualen verdient? Ich frage mich: Ist es eine Strafe Gottes? Einfach nur Wahnsinn? Oder ...
Ich kann dir nicht sagen, warum, entgegnete Edouard. Aber ich kann dir sagen, wer.
Die beiden schwiegen abrupt.
Einer vom Geschlecht, fuhr Edouard fort, und obwohl Luc die Bedeutung der Worte nicht verstand, lief ein Prickeln über seine Haut.
Einer vom Geschlecht? Nein. Nein, das ist unmöglich. Wie könnte jemand, der so viele Gaben besitzt, so käuflich werden?
Es ist geschehen, Paul.
Nein, nein. Es ist allein meine Schuld, das versichere ich dir. Wir haben sie gedrängt, du und ich. Sie war immer schon sensibel. Vielleicht ist es ja gar kein Angriff. Zu sensibel, und du, ihr eigener Zwillingsbruder, weißt das besser als alle anderen. Ich habe getan, worum du mich gebeten hast, immer - was ihr beide gesagt habt, war meine
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