Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
sprach, wusste er, dass die Erwachsenen einem bedeutenden Ereignis entgegensahen. Der Vater trug seinen besten Umhang, der mit einer Brosche aus Gold und Rubinen über einer safrangelben Seidentunika befestigt war. Auch Luc war mit seiner feinsten Kleidung angetan: einer Tunika und Beinkleidern, die bereits zu kurz geworden waren, sowie den etwas zu großen Samtschuhen eines Edelmannes mit nach oben gebogenen Spitzen.
Sie eilten durch zahlreiche unfreundliche Räume, dann eine Außentreppe hinauf. Kurz darauf befand sich der kleine Luc in einer hohen Halle an einem langen Tisch auf dem Podium, vor dem weitere zwei Dutzend Tische aufgereiht standen. Daran hatten dicht gedrängt Damen und Herren Platz genommen, einhundert Ritter, die alle die gleichen weißen Umhänge trugen, bestickt mit einem Falken und Rosen. Am Kopfende des großen Tisches saß sein Vater mit kastanienbraunem Haar und schwarzen, fast grimmig wirkenden Augenbrauen, Luc zu seiner Rechten.
Er wirkte klein auf seinem Holzstuhl und reichte gerade an die dicke Scheibe Brot heran, die ihm als Teller diente, und den kühlen Silberkelch mit Hippokras, dem besten Würzwein seines Vaters. Luc trank einen Schluck und lächelte. Eine vertraute Freude rührte sich in ihm, als er das Essen roch, das herangetragen wurde. Ein Fischeintopf, gebratener Hammel, mit Essig und Zwiebeln gegrillte Hasen, Erbsen mit Safran und eine dicke Suppe mit Lauch und Fleisch, Sahne und dazu Brot. Nana, die neben ihm saß, schnitt das Fleisch in kleine Stücke und legte es auf Lucs Brotscheibe.
Über die Musik der Leierspieler hinweg flüsterte sie ihm zu: »Denk dran, kleine Bissen zu nehmen und mit geschlossenem Mund zu kauen, und bitte vergiss diesmal nicht, für Erbsen und Lauch den Löffel zu benutzen.«
Ihre sonst so vertraute Stimme klang seltsam fremd, und er schaute auf. Sie war eine stattliche Frau und hatte das eisengraue Haar zu Zöpfen geflochten und unter einer Haube mit langem, weißem Schleier hochgesteckt, der unter ihrem Kinn fest zusammengebunden war. Sie trug einen herrlichen Umhang aus dunkelrotem und lila Brokat.
Zum Teufel mit diesen schwarzen Gewändern, pflegte Nana zu sagen. Als ich noch jung war, habe ich dauernd Witwenkleider getragen. Jetzt bin ich eine alte Frau und mache, was ich will.
Ihr Verhalten wirkte zuweilen hart, doch ihr Herz war so weich wie ihr draller Körper. Luc, der in ihrem Bett schlief und mehr Zeit mit ihr verbrachte als mit seinen Eltern, war sehr dankbar für ihre unverhohlene Zuneigung.
»Nana«, murmelte er glücklich beim Anblick seiner Großmutter, wobei ihn eine andere Stimme am Tisch übertönte.
»Wir müssen ein Exempel statuieren«, verkündete der Erzbischof. Seine blauen Augen waren rot geädert, sein Gesicht voll und rund. »Wir müssen die Menschen im Languedoc daran erinnern, dass die Kirche jegliche Art von Ketzerei nicht länger duldet. Und ich bin davon überzeugt, sie wollen daran erinnert werden. Bei den vielen Krankheiten und den Missernten in letzter Zeit brauchen sie einen Grund, sie brauchen Schuldige. Wer wollte sagen, ob nicht doch Gott uns gestraft hat? Ketzerei ist wie Unkraut, sie verbreitet sich unglaublich schnell, und ihre Wurzeln liegen im Verborgenen. Man war der Ansicht, de Monfort habe alle Katharer umgebracht, desgleichen Philip der Schöne alle Templer. Aber in Wahrheit lauern sie noch immer mitten unter uns ...«
Hinter Luc fragte eine vertraute Stimme leichthin, beinahe scherzhaft: »Die Templer? Ich dachte, die seien alle tot oder nach Schottland geflohen.«
»Onkel Edouard!«, rief Luc, und noch ehe Nana ihn an seiner Tunika festhalten konnte, fuhr er auf seinem Stuhl so rasch herum, dass er ihn beinahe umwarf, und ließ sich von seinem Onkel auf den Arm nehmen.
»Um Himmels willen! Edouard Luc! Ich glaube wirklich, das ist das letzte Jahr, in dem ich dich noch hochheben kann«, scherzte der Onkel. Lucs Mutter glich ihrem Zwillingsbruder Edouard aufs Haar, sie hatte dieselben verblüffend grünen Augen und die feinen Gesichtszüge, doch Edouards Kinn war kantiger, seine Augenbrauen buschiger und das goldene Haar schimmerte in einem leichten Rotton. Edouard setzte seinen Neffen wieder auf den Stuhl und wandte sich dann an seinen Schwager, der bei seinem Eintreffen aufgestanden war.
»Seigneur de la Rose«, begrüßte Edouard ihn und verneigte sich förmlich. Dann, als Lucs Vater lächelnd die Hand nach ihm ausstreckte, fügte er hinzu: »Paul. Wie geht es dir, Bruder?«
»Nun ja«,
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