Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
angewendet werden, sondern nur wohlüberlegt und stets mit dem Ziel, ein Geständnis zu erzwingen.
»Ich sollte Euch auf der Stelle melden«, fuhr der Priester die beiden Männer zornbebend an, »damit Ihr nicht nur wegen Eures unglaublichen Vergehens angeklagt werdet, sondern auch wegen des Verbrechens, das Ihr hier beinahe begangen hättet. Doch ich habe nicht viel Zeit. Daher gebe ich Euch noch eine Chance, dem Gesetz treu zu bleiben. Sorgt dafür ... sonst werde ich Wert darauf legen, Euch persönlich zu befragen. Und Ihr könnt Euch gewiss vorstellen, wie erfinderisch ein Folterknecht sein Handwerk an einem anderen ausüben wird.«
Mit diesen Worten begab sich Charles wieder in den Korridor und begleitete Michel zur Gemeinschaftszelle, die ihnen vom Kerkermeister aufgeschlossen wurde. Michel legte die bewusstlose Nonne sachte auf das Stroh. Die Nonnen nahmen die Schwester sogleich in ihre Mitte, ohne die Inquisitoren noch weiter zu beachten. Leise schluchzend und vor sich hin murmelnd, zogen sie eine schmutzige Decke über die Entblößte.
»Schwestern«, sprach Charles sie in ernstem Ton von der anderen Seite der Eisenstäbe an, »ich bitte um Vergebung für diesen bedauerlichen Vorfall, und ich bitte Euch zu bedenken, dass Ihr alle die Möglichkeit erhalten werdet, einem solchen Schicksal zu entgehen.« Zwei Nonnen schauten mit verschleiertem Blick zu ihm auf, so wie einst ihre Köpfe verschleiert gewesen waren. Ob ihre ernsten Mienen von Reue oder unterdrücktem Hass zeugten, war nicht zu erkennen. Die anderen konzentrierten sich auf die Verwundete in ihrer Mitte. Keine merkte, dass die beiden Inquisitoren sich zurückzogen und der Kerkermeister die Gitter wieder schloss. Wortlos führte der verärgerte Kerkermeister die beiden Kleriker den Korridor entlang, vorbei an einer zweiten, leer stehenden Gemeinschaftszelle und einer Reihe ungenutzter Einzelzellen, bis er die letzte erreicht hatte. Dort blieb er vor einer mit rostigen Eisenbändern verstärkten Holztür stehen, in die in Augenhöhe ein vergittertes Guckloch eingelassen war sowie ein Schlitz am Boden, durch den man Essen oder Wasser hindurchschieben konnte. Diese Tür schloss er auf. Knarrend schwang sie zurück. Michel trat hinter Charles ein.
Die Zelle sah aus wie viele andere: ein feuchter, mit Stroh bedeckter Lehmboden, ein Latrineneimer voller Urin, eine kleine, in Fett getränkte Fackel neben dem Eingang, die ein schwaches Licht verbreitete und qualmte, sodass alles mit einer feinen, schwarzen Rußschicht überzogen war. Zugleich war sie in gewisser Weise auch anders. Auf dem Fußboden brannte in einem Kerzenhalter aus Keramik eine feine weiße Kerze, die schwankende Lichtbögen an die Wände warf. Auch hatte der Gestank hier nachgelassen, sodass Charles sein Taschentuch in den Ärmel zurücksteckte.
Auf einer Holzpritsche, die an Ketten herabhing, lag eine Frau auf dem Rücken und hatte das Gesicht zur Wand gedreht. Als die Inquisitoren zwischen sie und die Kerze traten, fielen ihre Schatten mit der unheimlichen Silhouette schwarzen Rauchs, der um ihre Schultern wehte, auf die Frau und die Wand dahinter.
Selbst im Dämmerlicht konnte Michel klar erkennen, dass ihr Wangenknochen, der sich unter dem dicken, bis in den Nacken reichenden, glänzenden schwarzen Haar abzeichnete, geschwollen war, wenn nicht sogar gebrochen. Man hörte ihren flachen, keuchenden Atem, der auf gebrochene Rippen schließen ließ. Die Folterknechte hatten sie sich wohl zuerst vorgenommen. Unwillkürlich dachte er an seinen Arzneimittelvorrat in Avignon und versorgte die Frau im Geiste mit Weidenrinde gegen den Schmerz, des Weiteren mit einer Paste aus Schwarzwurz, den Blättern der Ringelblume und Olivenöl gegen die Prellungen ... Vater Charles ließ sich auf einem der beiden Schemel nieder, die eigens für die Inquisitoren dort aufgestellt worden waren. Michel tat es ihm nach und setzte sich schräg hinter den Priester. Er knotete das Bündel an seinem Gürtel auf, während Charles leise fragte: »Mutter Marie Francoise?«
Der Körper der Frau spannte sich.
»Ich bin Vater Charles, ein Dominikanerpriester, den die Kirche gesandt hat, Euren Fall zu untersuchen. Und das hier« - er deutete mit beinahe väterlichem Stolz auf seinen Gehilfen - »ist mein Schreiber, Pflegesohn des Kardinals Chretien, der Dominikanerbruder Michel.« Diese Haltung behielt er einen Moment bei, als wartete er darauf, dass die Äbtissin sich umdrehte und sie beide zur Kenntnis nähme. Als
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