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Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
Autoren: Unbekannter Autor
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hin- und hergerissen.
    »Geht!«, rief Nori noch einmal. »Sie kommen hierher! Geht an ihnen vorbei zur nördlichen Sakristei!«
    Lorenzo hatte keine Ahnung, wer sie waren, doch endlich kam Bewegung in ihn. Das Schwert noch immer fest im Griff, setzte er über das niedrige Geländer und sprang in das achteckige, aus Holz geschnitzte Chorgestühl. Pausbäckige Jungen stoben kreischend auseinander, ihre weißen Roben flatterten wie die Schwingen aufgescheuchter Vögel.
    Gefolgt von seinen Beschützern drängte sich Lorenzo durch die mit den Armen fuchtelnden Chorknaben und taumelte auf den Hauptaltar zu. Der durchdringende Weihrauchgeruch vermischte sich mit dem Duft von verschüttetem Wein; zwei große, schwere Kandelaber loderten. Der Priester und seine Diakone nahmen den flennenden Riario beschützend in ihre Mitte. Lorenzo blinzelte, als er zu ihnen hinschaute. Der Blick in die brennenden Kerzen hatte ihn geblendet, und in einem Moment der Benommenheit legte er seine freie Hand an den Hals; als er sie wieder löste, war sie blutig.
    Dennoch zwang er sich, Giuliano zuliebe nicht ohnmächtig zu werden. Er konnte sich keinen Augenblick der Schwäche erlauben - nicht eher, als bis sein Bruder in Sicherheit war.
    In dem Moment, als Lorenzo nach Norden zum Altar lief, zwängten sich Francesco de' Pazzi und Bernardo Baroncelli im Sanktuarium Richtung Süden durch die Menge, gänzlich ahnungslos, dass sie an ihrer anvisierten Zielperson vorbeikamen.
    Lorenzo blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie mit offenem Mund an, was zu Zusammenstößen im Gefolge hinter ihm führte.
    Baroncelli ging voran, schwenkte ein langes Messer und rief Unverständliches. Francesco hinkte stark; sein Oberschenkel blutete, seine Tunika war von roten Spritzern übersät.
    Lorenzo bemühte sich, an den Männern, die ihn umgaben, vorbeizusehen, hinter die aufgescheuchte Menschenmenge nach unten zu schauen an die Stelle, wo sein Bruder zuvor gestanden hatte, doch man verstellte ihm den Blick.
    »Giuliano!«, schrie er mit aller Kraft, die er besaß, und betete, dass er über dem Höllenlärm zu hören war. »Giuliano ...! Wo bist du? Bruder, sag etwas!«
    Die anderen rückten dichter an ihn heran. »Ist schon in Ordnung«, sagte jemand in einem derart unsicheren Tonfall, dass der beabsichtigte Trost fehlschlug.
    Es war ganz und gar nicht in Ordnung, dass Giuliano verschwunden war. Seit dem Todestag ihres Vaters hatte Lorenzo sich mit brüderlicher wie väterlicher Liebe um den Jüngeren gekümmert.
    »Giuliano!«, rief Lorenzo erneut. »Giuliano ...!«
    »Er ist nicht da«, erwiderte eine gedämpfte Stimme. Da er der Meinung war, es sollte heißen, sein Bruder sei Richtung Süden gelaufen, um ihn zu finden, wandte sich Lorenzo wieder in diese Richtung, wo seine Freunde noch gegen die Attentäter kämpften. Der kleinere Priester mit dem Schild hatte es vorgezogen, das Weite zu suchen, doch der Wahnsinnige war noch da, obwohl er den Kampf gegen Marco verlor. Giuliano war nirgends zu sehen.
    Entmutigt wollte sich Lorenzo schon abwenden, doch sein Blick blieb an einer aufblitzenden, schnell geführten Klinge haften und zwang ihn, zurückzuschauen.
    Die Klinge gehörte Bernardo Baroncelli. Mit einer Bosheit, die Lorenzo ihm im Traum nicht zugetraut hätte, rammte Baroncelli sein langes Messer tief in Francesco Noris Bauch. Noris Augen traten hervor, als er zu der Einstichstelle hinuntersah; seine Lippen formten ein kleines, perfektes »o«, derweil er nach hinten sank und von Baron-cellis Schwert glitt.
    Lorenzo seufzte tief. Poliziano und della Stuffa packten ihn an den Schultern und schoben ihn fort, am Altar vorbei und auf die hohen Türen der Sakristei zu. »Holt Francesco!«, bat er sie. »Irgendjemand soll Francesco holen. Er lebt noch, ich weiß es.«
    Wieder versuchte er, sich umzudrehen und nach seinem Bruder zu rufen, doch diesmal ließen seine Begleiter nicht zu, dass er ihren schnellen Rückzug in die Sakristei behinderte. Lorenzo spürte einen Schmerz in seiner Brust, einen derart heftigen Druck, dass er schon dachte, das Herz würde ihm zerspringen.
    Er hatte Giuliano verletzt. Er hatte ihm in einem Augenblick wehgetan, als er am verwundbarsten war, und als Giuliano gesagt hatte, Ich liebe dich, Lorenzo ... Bitte, zwing mich nicht, wählen zu müssen, war Lorenzo grausam gewesen. Er hatte ihn abgewiesen, ihm seine Hilfe verwehrt - die eine Sache, die er Giuliano am meisten schuldete.
    Wie sollte er den anderen erklären, dass er seinen
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