Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
jüngeren Bruder auf keinen Fall zurücklassen konnte? Wie sollte er sein Verantwortungsgefühl gegenüber Giuliano erklären, der seinen Vater verlor, als er noch sehr jung war, und Lorenzo immer als sein Vorbild angesehen hatte? Wie sollte er das Versprechen erklären, das er am Totenbett seines Vaters gegeben hatte? Sie waren alle zu sehr um die Sicherheit von Lorenzo il Magnifico besorgt, den sie für den wichtigsten Mann von Florenz hielten, doch sie irrten sich, einer wie der andere.
Lorenzo wurde hinter die dicken, schweren Türen der Sakristei geschoben. Sie fielen zu, nachdem sich jemand hinausgewagt hatte, um den verwundeten Nori zu holen.
Der stickige, fensterlose Raum roch nach Messwein und dem Staub, der sich auf den Priestergewändern abgesetzt hatte. Lorenzo packte jeden Einzelnen, der ihn in Sicherheit gebracht hatte; er betrachtete jedes Gesicht und war jedes Mal enttäuscht. Der wichtigste Mann von Florenz war nicht unter ihnen.
Er dachte an Baroncellis großes, gebogenes Messer und an das helle Blut auf Francesco de' Pazzis Oberschenkel und Tunika. Die Bilder zwangen ihn, sich zur Tür zu bewegen in der Absicht, sie aufzureißen und zurückzugehen, um seinen Bruder zu retten. Della Stuffa aber spürte, was er vorhatte, und baute sich sogleich vor dem Ausgang auf. Der alte Michelozzo schloss sich ihm an, dann Antonio Ridolfo; das Gewicht der drei Männer hielt die Tür fest geschlossen. Lorenzo wurde an den äußeren Rand der Messingtür gedrängt. In ihren Mienen lag ein Ingrimm, ein unausgesprochenes, unsägliches Wissen, das Lorenzo nicht hinnehmen konnte und wollte.
Hysterisch schlug er gegen das kalte Messing, bis ihm die Fäuste wehtaten, und er fuhr so lange fort, bis sie schließlich bluteten. Der Gelehrte Angelo Poliziano bemühte sich, ein Stück Wollstoff, das er vom eigenen Umhang abgerissen hatte, um den blutenden Schnitt an Lorenzos Hals zu wickeln. Lorenzo versuchte, den anderen abzuwehren, doch Poliziano machte hartnäckig weiter, bis die Wunde fest verbunden war.
Unterdessen ließ Lorenzo nicht in seinen hektischen Bemühungen nach. »Mein Bruder!«, schrie er schrill und ließ sich von niemandem trösten oder beruhigen. »Ich muss ihn suchen gehen! Mein Bruder! Wo ist mein Bruder ...?«
Kurz zuvor hatte Giuliano erstaunt aufgeschaut, als Baroncelli sein großes Messer über den Kopf hob - die Spitze der Klinge zeigte direkt auf das Herz des jüngeren Medici.
Alles ging so rasch, dass Giuliano keine Zeit blieb, sich zu ängstigen. Instinktiv wich er zurück - und prallte dabei gegen jemanden, der sich so fest und schnell an ihn drückte, dass er zweifellos einer der Verschwörer sein musste. Mit einem Seitenblick sah Giuliano den Mann hinter sich, in ein Büßergewand gekleidet - dann blieb ihm die Luft weg, als sich die kalte, brennende Klinge in seinen Rücken bohrte, direkt unterhalb des Rippenbogens.
Er war ernsthaft verwundet. Von Attentätern umzingelt, war er dem Tode nahe.
Diese Erkenntnis machte ihm nicht so sehr zu schaffen wie die Tatsache, dass er in der Falle saß und Lorenzo nicht warnen konnte. Zweifellos wäre sein Bruder das nächste Ziel.
»Lorenzo«, sagte er klar und deutlich, als Baroncellis Messer schließlich niedersauste; auf der Klinge spiegelten sich hundert winzige Flammen der Kerzen auf dem Altar. Doch seine Äußerung wurde von Baroncellis panischem, unsinnigem Schrei übertönt: »Da, Verräter!«
Der Schlag traf Giuliano zwischen den beiden oberen Rippen. Knochen knackten, und ein zweiter stechender Schmerz durchfuhr ihn mit einer solch unglaublichen Heftigkeit, dass ihm der Atem stockte.
Baroncellis gründlich rasiertes Gesicht, mit dem er Giu-liano sehr nahe kam, glänzte schweißnass. Er knurrte vor Anstrengung, als er das Messer herauszog; es gab dabei ein eigenartig schmatzendes Geräusch von sich. Mühsam tat
Giuliano noch einen Atemzug, um Lorenzo zu rufen; heraus kam nicht einmal ein Flüstern.
In jenem Augenblick, als er auf das Messer über sich starrte und Baroncelli bereits zum nächsten Hieb ausholte, wurde Giuliano an einen anderen Ort zu einer anderen Zeit befördert: an den Arno an einem Tag im späten Frühjahr vor langer Zeit.
Er rief nach seinem Bruder, erhielt aber keine Antwort; Lorenzo war im trüben Wasser verschwunden. Giulianos Augen brannten. Er hatte weder die Kraft noch den Atem, wusste jedoch, was er zu tun hatte.
Lieber Gott, betete er mit der Ernsthaftigkeit eines Kindes, lass mich meinen Bruder
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