Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
es düster und kalt. Als ich über die Schwelle schritt, verwischten sich die Konturen der Gegenwart und verschmolzen mit der Vergangenheit. Ich konnte nicht beurteilen, wo die eine aufhörte und die andere begann.
Gemeinsam gingen wir durch einen Seitengang: Salvatore zu meiner Linken außen, Francesco gleich links neben mir. Rechts wurde ich von dem mordlustigen jungen Soldaten flankiert. Unser Schritt war zügig; ich versuchte an meinem falschen Gemahl und an Salvatore vorbeizusehen. Verzweifelt hielt ich Ausschau nach einem geliebten Antlitz - und betete darum, es zu sehen und auch wieder nicht zu sehen.
Ich erkannte jedoch nur wenig, während wir unbarmherzig auf den Altar zustrebten. Ich konnte nur Eindrücke sammeln: ein Kirchenschiff, das nicht einmal zu einem Drittel gefüllt war. Bettler, schwarz verschleierte Nonnen, Kaufleute; zwei Mönche, die eine Gruppe zappelnder Bengel aller Altersklassen zur Ruhe brachten. Als wir an anderen Patriziern vorbeikamen, um unsere Plätze einzunehmen - die zweite Reihe vor dem Altar, an der Seite neben dem hölzernen Chorgestühl -, nickte Francesco lächelnd Bekannten zu. Ich folgte seinem Blick und erkannte sechs Prioren, die auf verschiedenen Plätzen um uns herumsaßen.
Ich fragte mich, wer von ihnen Komplize und wer Opfer sein mochte.
Schließlich hielten wir unter der massiven Kuppel. Ich stand zwischen meinem Gemahl und dem unglücklichen Soldaten und wandte den Blick nach rechts, weil sich von dort Personen auf uns zubewegten.
Matteo. Matteo auf stämmigen kurzen Beinen an der Hand seines gebeugten Kindermädchens. Ein eigenwilliger Junge; er wollte sich nicht von ihr tragen lassen. Als er näher kam, stieß ich einen leisen Schrei aus. Francesco packte meinen Arm, den anderen aber hielt ich meinem Sohn entgegen. Er sah mich und rief mit umwerfendem Lächeln nach mir. Auch ich rief seinen Namen.
Das Kindermädchen packte ihn, riss ihn hoch und trug ihn, bis sie neben dem Soldaten stand, unserer Barriere. Matteo wand sich und versuchte, sich zu mir durchzuschlängeln, doch die Kinderfrau hielt ihn fest, und der Soldat trat einen kleinen Schritt vor, damit ich mein Kind nicht berühren konnte. Gequält wandte ich mich ab.
»Wir hielten es für das Beste«, sagte Francesco leise zu mir, »dass eine Mutter ihren Sohn sieht. Dass sie weiß, wo er in jedem Augenblick ist, sodass sie stets ermahnt wird, so zu handeln, wie es für ihn am besten ist.«
Ich schaute den Soldaten an. Ich hatte vermutet, er sei mitgekommen, um ausschließlich als meine Wache und mein Mörder zu dienen. Nun sah ich ihn mit seinem großen Messer in Lauerstellung neben meinem Sohn; Hass drückte mich nieder, dass ich kaum zu stehen vermochte.
Ich war mit einem einzigen Ziel in den Duomo gegangen: Francesco umzubringen, bevor das Zeichen gegeben wurde. Nun wankte ich in meinem Entschluss. Wie konnte ich mein Kind retten und meinen Peiniger dennoch töten? Ich hatte nur einen Hieb zur Verfügung. Stieße ich auf den Soldaten ein, würde Francesco bestimmt auf mich losgehen - und Salvatore de' Pazzi stand eine Schwertlänge von Giulianos Erben entfernt.
Dein Kind ist schon tot, sagte ich mir, so wie du. Uns wurde keine Erlösung zuteil; ich hatte nur eine Chance -keine Rettung, sondern Rache.
Ich stützte meine Hand - die ich nach Matteo ausgestreckt hatte - leicht in meine Taille, wo das Stilett verborgen war. Verwundert nahm ich zur Kenntnis, dass ich bereit war, meinen Sohn für meinen Hass zu opfern; wie sehr glich ich doch inzwischen meinem Vater Antonio. Er hatte allerdings nur einen Verlust erlebt, überlegte ich starrsinnig. Ich dagegen hatte viele erlitten, zu viele.
Ich nestelte an meinem Gürtel herum und wusste nicht, was ich tun sollte.
Die Messe begann. Priester und Chorknaben zogen in einer Prozession zum dunklen, mit Gold bemalten Altar, der von einem Holzkreuz mit dem sterbenden Gottessohn gekrönt war. Das schwingende Turibulum blies Weihrauchschwaden in die Düsternis, die alle Konturen und die Ränder der Zeit noch mehr verwischten. Der Chor stimmte das Eingangslied und das Kyrieeleison an. Hinter uns drängte sich eine Schar kichernder Waisen nach vorn und mischte sich unter die aufgebrachten Patrizier. Einer der Mönche folgte ihnen und teilte zischend Ermahnungen aus. Der säuerliche Geruch schmutziger Kinder wehte zu uns herüber; Francesco hielt sich missbilligend ein Taschentuch an die Nase.
Dominus vobiscum, der Herr sei mit euch, sagte der Priester.
Et cum
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