Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
ich seine enorme Backsteinkuppel in meiner Kindheit von unserem Haus auf der anderen Seite des Arno in der Via Maggio immer vor Augen gehabt hatte. Mein Leben lang war ich in unserem Stadtteil in die Kirche Santo Spirito gegangen und hielt sie für riesig mit ihren klassischen Säulen und Bögen aus pietra serena, einem feinen, hellgrauen Stein. Auch unser Hauptaltar lag unter einer Kuppel, die der große Brunelleschi entworfen hatte, sein letztes Werk; für mich war Santo Spirito mit den achtunddreißig Seitenaltären unvorstellbar prächtig und imposant gewesen - bis ich im mächtigen Duomo stand. Die Kuppel war eine Herausforderung für die menschliche Vorstellungskraft. Während ich emporschaute, begriff ich, warum man anfangs Bedenken hatte, sich darunterzustellen. Mir wurde auch klar, warum einige, die am Tag des Mordes an Giuliano die Rufe gehört hatten, hinausgelaufen waren, da sie glaubten, der große Dom bräche schließlich doch zusammen.
Es grenzte an ein Wunder, dass etwas so Riesiges sich gänzlich ohne sichtbare Stützen in die Luft erheben konnte.
Meine Mutter hatte mich nicht nur zur Piazza del Duomo geführt, damit ich die Kuppel bewunderte, sondern auch, um mein Verlangen nach Kunst zu stillen - und das ihre. Sie stammte aus gutem Hause und war gebildet; sie schwärmte für Dichtung, die sie auf Italienisch und Latein las (beide Sprachen hatte sie mich gelehrt). Leidenschaftlich hatte sie sich ein umfassendes Wissen über die kulturellen Schätze der Stadt angeeignet - und hatte lange darunter gelitten, dass ihre Krankheit sie davon abhielt, dieses Wissen mit mir zu teilen. Als sich an jenem strahlenden Dezembertag also die Gelegenheit bot, fuhren wir mit der Kutsche Richtung Osten und begaben uns über den Ponte Vecchio in das Herz von Florenz.
Es wäre rascher gegangen, wenn wir direkt über die Via Maggio zur nächstgelegenen Brücke gefahren wären, dem Ponte Santa Trinita, doch damit wäre mir ein Festschmaus für die Augen entgangen. Der Ponte Vecchio war gesäumt mit botteghe von Goldschmieden und Künstlern. Jede bottega ging direkt auf die Straße, und die Waren des Besitzers waren vor dem Laden gut sichtbar ausgestellt. Wir trugen unsere besten, pelzgefütterten Capes, die uns vor der frostigen Luft schützen sollten, und Zalumma hatte meine Mutter in ein paar dicke Wolldecken gepackt. Ich war viel zu aufgeregt, um zu frieren; ich streckte den Kopf zur Kutsche hinaus und bestaunte Schmuckplatten, kleine Statuen, Gürtel, Armbänder und Karnevalsmasken aus Gold. Ich schaute auf gemeißelte Marmorbüsten wohlhabender Florentiner, auf Porträts im Entstehungsprozess. Früher, sagte meine Mutter, war die Brücke Heimstatt für Schlachter und Gerber, die ihre Abfälle direkt in den Arno zu werfen pflegten. Die Medici hatten dagegen Protest eingelegt: Jetzt war der Fluss sauberer denn je, und die Gerber und Färber arbeiteten in besonders ausgewiesenen Stadtteilen.
Auf dem Weg zum Duomo hielt unsere Kutsche auf dem riesigen Platz vor der imposanten Festung, bekannt unter dem Namen Palazzo della Signoria, in der die Prio-ren von Florenz zusammentrafen. An einer hervorspringenden Mauer eines angrenzenden Gebäudes erblickte ich ein groteskes Fresko: Bilder von erhängten Männern. Ich wusste nichts über sie, außer dass man sie die Pazzi-Verschwörer nannte und dass sie böse waren. Einer der Verschwörer, ein kleiner, nackter Mann, starrte mich mit weit aufgerissenen, leeren Augen an; die Wirkung war nervenaufreibend. Was mich jedoch am meisten faszinierte, war das Porträt des letzten Erhängten. Seine Gestalt unterschied sich von den anderen, war feiner gearbeitet, überzeugender; die raffinierten Schattierungen machten den Kummer und die Reue einer leidenden Seele deutlich. Außerdem schien er nicht wie die anderen zu schweben, sondern besaß den Schatten und die Tiefe der Realität. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich in die Mauer greifen und Baroncellis auskühlendes Fleisch berühren.
Ich wandte mich meiner Mutter zu. Sie beobachtete mich genau, obwohl sie weder ein Wort über das Wandgemälde verlor, noch über den Grund, warum wir dort angehalten hatten. Zum ersten Mal hatte ich mich länger auf der Piazza aufgehalten, zum ersten Mal hatte man mir einen mehr als flüchtigen Blick auf die Erhängten gestattet. »Den Letzten hat ein anderer Künstler gemalt«, sagte ich.
»Leonardo aus Vinci«, sagte sie. »Er besitzt einen erstaunlich feinen Pinselstrich, nicht wahr? Er ist wie
Weitere Kostenlose Bücher