Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis
glaube, dass dies der Mann gewesen sei, der den ersten Hieb ausgeführt habe. Als Giuliano versucht habe, vor Baroncelli zurückzuweichen, sei die Gestalt standhaft geblieben, habe sich gegen das Opfer gepresst und ihm eine Falle gestellt. Zu diesem Zeitpunkt habe die Menge Leonardo die Sicht zum größten Teil versperrt - der Unbekannte sei kurz verschwunden, vielleicht gestürzt, dann aber wieder auf die Beine gekommen. Er sei nicht einmal zurückgeschreckt, als Francesco wild mit seinem Dolch zugestoßen habe, sondern habe seinen Platz beibehalten, bis Francesco und Baroncelli weitergegangen seien.
Nachdem Giuliano gestorben sei, habe Leonardo aufgeschaut und den Mann bemerkt, wie er schnell auf die zu der Piazza hinausführende Tür zuging. Er müsse an einer Stelle stehen geblieben sein, um einen Blick zurückzuwerfen und sich zu vergewissern, ob das Opfer auch tot sei.
»Mörder!«, rief der Künstler. »Stehen bleiben!«
In seiner Stimme lag so viel empörte Autorität, so viel Aggression, dass der Verschwörer erstaunlicherweise wie angewurzelt stehen blieb und einen kurzen Blick über die Schulter warf.
Leonardo fing sein Bild mit dem Auge des geübten Malers ein. Der Mann trug ein Büßergewand - reines Sackleinen - und sein glatt rasiertes Gesicht lag unter einer Kapuze halb im Schatten. Nur die untere Hälfte seiner Lippen und seines Kinns waren sichtbar.
In einer Hand hielt er ein blutiges Stilett, fest an sich gedrückt.
Nachdem er geflohen war, hatte Leonardo den Leichnam Giulianos sanft auf die Seite gerollt und den Einstich entdeckt - klein, aber sehr tief mitten auf dem Rücken.
Davon berichtete er Lorenzo. Er gestand allerdings nicht ein, was er in seinem gequälten Herzen wusste: nämlich dass er, Leonardo, für Giulianos Tod verantwortlich war.
Seine Schuld war nicht irrational. Sie war das Ergebnis langer Überlegungen über das Vorgefallene. Wäre er, der Künstler, nicht von Liebe und Schmerz und Eifersucht übermannt gewesen, wäre Giuliano womöglich noch am Leben.
Leonardo hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Menschenmengen zu betrachten - Gesichter, Körper, Haltung -, was ihm viele Informationen verschaffte. Vom Rücken eines Menschen war beinahe ebenso viel abzulesen wie von seiner Vorderseite. Hätte der Künstler sich nicht von Gedanken an Giuliano und die Frau davontragen lassen, hätte er gewiss die außergewöhnliche Anspannung in der Körperhaltung des Büßers bemerkt, denn der Mann hatte fast direkt vor ihm gestanden. Ihm wäre vielleicht etwas Merkwürdiges an Baroncellis oder Francesco de' Pazzis Verhalten aufgefallen, als sie neben Giuliano abwarteten. Er hätte die Angst der drei Männer gespürt und den Schluss daraus gezogen, dass Giuliano in großer Gefahr war.
Hätte er nur aufgepasst, dann hätte er gesehen, wie der Büßer verstohlen nach seinem Stilett griff; ihm wäre aufgefallen, dass sich Baroncellis Hand um den Schwertgriff schloss.
Er hätte noch Zeit gehabt, einen Schritt vorzutreten. Die Hand des Büßers zu ergreifen. Sich zwischen Giuliano und Baroncelli zu schieben.
Stattdessen hatte ihn seine Leidenschaft zu einem geistlosen Zuschauer degradiert, hilflos der panischen, flüchtenden Menge ausgeliefert. Das hatte Giuliano das Leben gekostet.
Unter der Last seiner Schuld ließ er den Kopf hängen, hob ihn dann wieder und schaute il Magnifico in die besorgten, wissbegierigen Augen.
»Ich bin mir sicher, dass dieser Mann verkleidet war, Herr.«
Lorenzo merkte auf. »Woher wollt Ihr das wissen?«
»Seine Haltung. Büßer schwelgen in Selbstgeißelungen und tragen härene Hemden unter ihren Gewändern. Sie sind in sich zusammengesackt, gekrümmt, und bewegen sich behutsam, weil das Hemd bei jeder Berührung der Haut Schmerzen verursacht. Dieser Mann hat sich ungehindert bewegt; seine Haltung war aufrecht und selbstsicher. Aber die Muskeln waren angespannt - aus emotiona-ler Not. Außerdem glaube ich, dass er in Anbetracht der Würde und Vornehmheit seines Äußeren der Oberschicht angehört.«
Lorenzos Blick war durchdringend. »Das alles habt Ihr aus den Bewegungen eines Mannes ermittelt, eines Mannes, der ein Gewand trug?«
Leonardo schaute ihn an, ohne mit der Wimper zu zuk-ken. Für ihn waren alle Menschen gleich; die Mächtigen schüchterten ihn nicht ein. »Sonst wäre ich nicht hier.«
»Dann sollt Ihr mein Agent sein.« Lorenzos Augen wurden schmal vor Hass und Entschlossenheit. »Ihr sollt mir helfen, diesen Mann zu finden.«
So kam
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