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Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis

Titel: Kalogridis, Jeanne - Leonardos Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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es, dass Leonardo im vergangenen Jahr mehrfach in den Kerker im Keller des Palazzo della Signoria gerufen wurde, um Lippen, Kinnpartien und Körperhaltungen unglückseliger Männer sorgfältig zu prüfen. Keiner glich dem Büßer in der Kathedrale.
    Am Abend vor Baroncellis Hinrichtung hatte Lorenzo, jetzt il Magnifico genannt, zwei Wächter geschickt, um Leonardo in den Palazzo in der Via Larga zu bringen.
    Lorenzo hatte sich körperlich nur wenig verändert - bis auf die blasse Narbe am Hals. Wenn seine unsichtbare Wunde ähnlich verheilt war, dann hatte dieser Tag sie wieder aufgerissen, frisch und roh.
    Auch Leonardo litt unter der auf ihm lastenden Traurigkeit und Schuld. Wäre er nicht so niedergeschlagen gewesen, hätte er sich vielleicht erlaubt, sich an den einzigartigen Gesichtszügen des il Magnifico zu weiden, besonders an seiner Nase. Der Nasenrücken ging direkt unter den Augenbrauen kurz in die Höhe, wurde anschließend flach und verschwand plötzlich, als hätte Gott ihn mit seinem Daumen plattgedrückt. Doch er erhob sich wieder, rebellisch und in seiner Länge erstaunlich, um dann jäh nach links abzufallen. Die Form der Nase machte Lorenzos
    Stimme hart und nasal und hatte eine weitere eigenartige Auswirkung: In den Jahren, die Leonardo ihn nun kannte, hatte Lorenzo nicht einmal in seinem berühmten Garten gestanden und an einer Blüte gerochen. Er hatte niemals einer Frau wegen ihres Parfüms Komplimente gemacht noch auf einen anderen Geruch hingewiesen, ob angenehm oder nicht; tatsächlich schien er peinlich berührt, wenn jemand eine diesbezügliche Bemerkung fallen ließ. Nur eine Schlussfolgerung war möglich: Lorenzo hatte keinen Geruchssinn.
    An jenem Abend trug il Magnifico eine tiefblaue Woll-tunika, deren Kragen und Stulpen von weißem Hermelin gesäumt waren. Er war ein unglücklicher Sieger, doch er schien sich eher zu sorgen denn zu freuen. »Vielleicht habt Ihr Euch bereits gedacht, warum ich Euch holen ließ«, sagte er.
    »Ja. Ich soll morgen auf die Piazza gehen und nach dem dritten Mann suchen.« Leonardo zögerte; auch er war besorgt. »Zuerst brauche ich Eure Zusicherung.«
    »Bittet darum, dann werde ich sie gewähren. Jetzt habe ich Baroncelli; und ich kann nicht ruhen, bis der dritte Mörder ebenfalls gefasst ist.«
    »Baroncelli soll sterben, und Gerüchten zufolge wurde er unbarmherzig gefoltert.«
    Lorenzo unterbrach ihn rasch. »Und aus gutem Grund. Er war meine größte Hoffnung, den Mann zu finden, der meinen Bruder umgebracht hat. Aber er bestand darauf, dass er den Mann nicht kannte. Falls doch, so wird er das Geheimnis mit in die Hölle nehmen.«
    Die Bitterkeit im Ton des il Magnifico gab Leonardo zu denken. »Ser Lorenzo, wenn ich diesen dritten Mörder finde, kann ich ihn nicht reinen Gewissens ausliefern, damit man ihn tötet.«
    Lorenzo fuhr zurück, als hätte man ihm direkt ins Ge-sicht geschlagen; seine Stimme erhob sich empört. »Ihr würdet einen Komplizen des Mordkomplotts gegen meinen Bruder laufen lassen?«
    »Nein.« Leonardos Stimme zitterte leicht. »Ich habe Euren Bruder höher geschätzt als jeden anderen.«
    »Ich weiß«, erwiderte Lorenzo leise und in einer Weise, die besagte, dass er die ganze Wahrheit kannte. »Und deshalb weiß ich auch, dass Ihr von allen Männern mein größter Verbündeter seid.«
    Leonardo riss sich zusammen, senkte den Kopf und hob ihn wieder. »Ich möchte, dass ein solcher Mann vor Gericht gestellt wird - dass er seine Freiheit einbüßt, dass er dazu verurteilt wird, zum Wohle anderer zu arbeiten, dass er gezwungen ist, den Rest seines Lebens über sein Verbrechen nachzudenken.«
    Lorenzos Oberlippe war nicht zu sehen; die Unterlippe spannte sich so fest über seine hervorstehende untere Zahnreihe, dass die Spitzen zu sehen waren. »Ein derartiger Idealismus ist bewundernswert.« Er hielt kurz inne. »Ich bin ein vernünftiger Mann - und, wie Ihr, ein ehrlicher Mann. Wenn ich damit einverstanden bin, dass dieser Komplize, solltet Ihr ihn finden, nicht umgebracht, sondern stattdessen inhaftiert wird, geht Ihr dann auf die Piazza, um ihn zu suchen?«
    »Ja«, versprach Leonardo. »Und wenn es mir morgen nicht gelingt, werde ich die Suche fortsetzen, bis ich ihn endlich gefunden habe.«
    Lorenzo nickte zufrieden. Er wandte den Blick ab und betrachtete ein flämisches Gemälde von berückender Zartheit. »Ihr solltet wissen, dass dieser Mann ...« Er unterbrach sich und setzte dann von neuem an. »Das reicht viel tiefer

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