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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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nicht heraussuchen. Am Ende will es dann die andere Studentin haben.
    Susi küßt mich, das tut gut. Ich verwinde den Verlust meines Kleides ziemlich schnell und sage mir, daß ein lebendiges Mädchen mehr davon hat als eine tote Puppe. Hulda nickt zustimmend, sobald wir allein sind. Ich hülle sie in die karierte Küchentischdecke.
    Als ich schließlich im Bett liege, höre ich teuflische Musik, dann singen sie sogar. Max grölt: Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen!
    Felix scheint ihn zu rüffeln. Kurz darauf steht er vor mir. »Oma, wir machen Schluß für heute, morgen geht's weiter. Hast du noch einen Wunsch?«
    »Jetzt nicht, aber wenn Hugo kommt...«
    Felix amüsiert sich. »Immer dieser Hugo! Wenn du nicht jenseits von Gut und Böse wärst, würde ich...«
    Ich unterbreche ihn scharf. »Ein blöder Spruch, kein Mensch ist jenseits von Gut und Böse!«
    »Okay. Und dein Wunsch?«
    »Wenn Hugo kommt, sollst du uns mit dem Auto in die Stadt fahren, ich möchte mit ihm die alten Spazierwege am Großen Woog entlanggehen, zur Mathildenhöhe und vielleicht zum Schloß Kranichstein...«
    »Ist geritzt. Wie soll ich deinen Galan nennen, >Sie< oder >du<, >Onkel< oder >Herr Sowieso    Ich überlege. »Am besten >du< und >Onkel Hugo<.«
    Die Tür schlägt zu, es herrscht Ruhe. Hugos früh ergraute Tochter Heidemarie hat keine Kinder. Sicher wird ihm Felix ausgezeichnet gefallen.
    Im Laufe meines Lebens hatte ich immer wieder das zweifelhafte Vergnügen, in der Nähe von eineiigen Zwillingen zu leben. Auch jetzt, auf meine alten Tage, plage ich mich damit, zwei junge Männer aus der Nachbarschaft auseinanderzuhalten. Es könne mir doch völlig gleichgültig sein, welcher nun wie heißt, meint Hulda. Stimmt schon, aber ich würde so gerne beweisen, wie gut mein Gedächtnis noch funktioniert, und die hübschen Zwillinge damit in Erstaunen setzen. Wahrscheinlich ist es eine der wenigen Möglichkeiten, von ihnen überhaupt wahrgenommen zu werden, wenn ich sie spontan mit »Konradin« oder »Stephan« begrüße. Heute lese ich in der Zeitung, daß beide Jünglinge das Abitur bestanden haben und Konradin schon immer Konstantin hieß.
    In meiner Kindheit wohnten zwei alte Frauen neben uns, die sich nicht wie ein Ei dem anderen glichen, sondern eher wie zwei Blutwürste: von untersetzter Gestalt, klein und kurzbeinig, platzten sie fast aus ihren blaßlila oder rosa Kostümen. Früh verwitwet, hielten sie sich von menschlicher Gesellschaft fern. Waren schon die Zwillinge in hohem Maße unfreundlich, so war ihr ekelhafter Pudel ein echter Misanthrop. Wir fürchteten ihn.
    In der Werkstatt unseres Vaters wurden auch Reparaturen vorgenommen, hauptsächlich, um treuen Kunden einen zusätzlichen Weg zu ersparen. Die Zwillinge waren arm, kauften nie bei uns, ließen aber dafür ihre Treter regelmäßig besohlen. Aus Gründen der guten Nachbarschaft verlangte unser Vater bloß einen symbolischen Preis und war von seinem eigenen raren Edelmut so angetan, daß er sich dazu verstieg,
    seine Kinder zu einem furchtbaren Dienst zu zwingen: Wir mußten ihnen die besohlten Schuhe ins Haus bringen.
    Wenn es soweit war, begannen wir zu würfeln oder Streichhölzer zu ziehen. Immer wieder traf es Albert. Bereits beim ersten Mal schnappte der Pudel nach ihm, und er meinte nun, ein Argument zu haben, um den Dienst zu verweigern. Aber erfolglos. Wir Geschwister behaupteten, daß die Bestie uns geradezu verschlingen würde und Albert ihr erklärter Liebling sei. Und so kam es schließlich auch. Nicht bloß der Pudel fraß meinem Bruder die mitgebrachten Speckstücke aus der Hand, auch seine widerlichen Herrinnen hatten einen Narren an Albert gefressen, der seinerseits wiederum gern Schokolade aß. Mit diesem Köder wußten sie ihn - wie den zur Mast erkorenen Hänsel - in ihr Hexenhaus zu locken. Er erzählte von Bergen klebriger Süßigkeiten, die in Eimern und Waschschüsseln lagerten. Albert hatte mir dieses Schlaraffenland so blumig geschildert, daß ich beim nächsten Mal freiwillig mit ihm tauschte.
    Der Pudel namens Mufti sprang mir gegen die Brust, stieß mich um und beleckte mein Gesicht, was mir schlimmer vorkam, als wenn er nach meiner Wade geschnappt hätte. Ich schrie nach Kräften.
    »Warum schickt ihr nicht das dicke Brüderchen«, bekam ich zu hören, »ihm gehorcht Mufti aufs Wort.« Ich machte, daß ich heimkam, auf die Süßigkeiten war mir der Appetit vergangen. Seitdem stand Albert im Ruf, wie der heilige Franz wilde

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