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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Kindern in Darmstadt zu bleiben. Wir hatten als Notlüge eine plötzliche Grippe erfunden. Der Vergleich zwischen meinem blassen stillen Ulrich und diesem pausbäckigen Landjungen würde auf Mutters Waagschale wohl zu Ungunsten meines Kindes ausfallen. Schorsch sah zwar seiner Mutter Monika ähnlich, aber für die stolze Großmutter waren er und sein älterer Bruder Hansi das Ebenbild ihres toten Vaters.
    Weder um Mutter noch um Fanni mußte ich mir offenbar Sorgen machen. Allerdings war unsere katholische Schwester in diesen schlechten Zeiten keineswegs schmaler geworden, sondern hatte zugelegt. Ihr alter Pfarrer, dem sie lange den Haushalt geführt hatte, war vor kurzem gestorben; der neue war ein noch junger Mann, der dem Krieg in einem ausländischen Kloster entkommen war. Er war beliebt in der Gemeinde, was man an der Menge der geschenkten Viktualien ablesen konnte. Fanni war begeistert, um nicht zu sagen verliebt. Mußte man sich ihretwegen doch Gedanken machen? Um es vorwegzunehmen, die Liebe war und blieb einseitig.
    Ich hatte Ida lange nicht gesehen und war erschüttert. Nicht, daß sie wie eine Schwerkranke im Bett lag, aber sie legte nur noch eine unendlich müde, höfliche Gleichgültigkeit an den Tag. Weder jammerte sie, noch wirkte sie ungepflegt oder frühzeitig gealtert, doch man hatte das Gefühl, sie verloren zu haben. Natürlich schrieb ich mir die Schuld dafür zu.
    Alice war inzwischen Stationsschwester und verriet uns freudig ihre Zukunftspläne. Nächstes Jahr werde sie einen Arzt heiraten, der allerdings ein leichtes Verschüttungstrauma hatte. Nach der Heirat wollte Alice selbst ein Medizinstudium beginnen.
    »Aber Kind, du wirst demnächst achtundzwanzig«, sagte Mutter, »du kannst doch nicht mehr studieren!«
    Alice lachte nur.
    »Du wirst dich noch wundern«, sagte meine Mutter, »sowie das erste Kind kommt, ist diese Schnapsidee vergessen.«
    »Man muß nicht unbedingt sieben Kinder kriegen, Mama«, sagte Alice.
    Ida, Fanni und ich sahen gespannt zu unserer Mutter hinüber. Wie würde sie eine solche Frechheit aufnehmen? Wie weit war Mutter überhaupt aufgeklärt? Auch wir waren, wie wohl jede Generation (ungeachtet der eigenen Existenz) der Meinung, daß unsere Eltern geschlechtslose Wesen seien.
    Sie reagierte kühl. »Was läßt sich dagegen machen? Soll man die Babys ersäufen?«
    Die fromme Fanni war entsetzt; obwohl als einzige -Heidemarie war gerade abwesend - nicht durch praktische Erfahrungen geschult, ergriff sie für eine gewisse Geburtenregelung das Wort: »Natürlich darf man dem lieben Gott nicht ins Handwerk pfuschen, aber gerade Er hat dem
    Menschen Wege gezeigt, um nur erwünschte Kinder zu empfangen.«
    Jetzt waren Ida und ich verblüfft über unsere katholische Schwester. Aber Mutter meinte trocken: »Wenn du auf KnausOgino anspielst, dann verdankst du jedenfalls dieser Verhütungsmethode dein Leben.«
    Mein Vertrauen zu Alice war groß. Auf einem langen Spaziergang beichtete ich ihr meine Liebe zu Hugo, nicht jedoch Bernhards Kellerbestattung. Alice hörte gut zu, wertete nicht, urteilte nicht. Aber ich selbst wurde auf einmal bei meiner Rechtfertigung schwankend: Wie sollte es weitergehen? Alice versprach, sich persönlich um einen Arzttermin für Ida zu kümmern. »Ich habe zwar einen Verdacht«, sagte sie, »aber bevor man nicht genau weiß, was sie eigentlich hat, würde ich sie mit euren Problemen verschonen.«
    Ich versprach es. Im übrigen hatte sie noch ein Bonbon für Hugo. Ihr Verlobter, der nervöse Arzt, hatte einen Schulfreund, der im Frankfurter Westend demnächst eine Buchhandlung eröffnen wollte - vielleicht eine Chance. Alice hatte ihren Schwager bereits wärmstens empfohlen, nun müsse er sich bewerben und persönlich vorstellen. »Aber eines sage ich dir gleich«, meinte sie, »so wie bei den Amis wird er nirgends absahnen.«
    Ich wußte, daß die materielle Seite für Hugo wichtig, aber nicht vorrangig war. Er war auf seine Art so selten wie eine blaue Mauritius: ein praktischer Idealist.
    Monika gab sich alle Mühe, eine richtige Geburtstagstorte aus Buttercreme herzustellen, deren fette Süße man in jenen mageren Zeiten für die höchste Völlerei hielt. Es gibt wenig Essensgenüsse, an die man sich ein Leben lang erinnert, jener Kuchen gehört dazu. Viele Schichten aus Mürbe- und
    Biskuitteig wurden abwechselnd mit gelber Creme, roter Marmelade und Früchten überzogen und stellten in ihrem kunstvoll hohen Aufbau ein königliches

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