Kalt ist der Abendhauch
die Großstadt ziehen.
Nie wieder im Leben habe ich so stumm und trotzig gelitten wie damals. Ich sehnte mich nach einem Wunder. Aber es war nichts weniger als ein Wunder, daß sich meine Schwangerschaft bestätigte - bei unserer Lebensführung war es letztlich eine natürliche Konsequenz.
Nach all den Jahren noch, nachdem ich ein ganzes Leben hinter mir habe, muß ich immer noch weinen. Wie unglücklich und einsam ich damals war, hat außer Alice kein Mensch je erfahren.
Doch da klingelt das Telefon. Ich schneuze mich heftig und nehme den Hörer ab. Es meldet sich keines meiner Kinder oder gar Enkel, sondern Heidemarie. Sie brüllt, als ob ich schwerhörig wäre. Nun gut, ihr Vater ist es seit langem. »Wir kommen morgen. Ich liefere Papa bei dir ab und fahre nach einem Täßchen Kaffee wieder weiter. Sicher habt ihr euch viel zu erzählen...«
Ich vergesse zu fragen, wie lange Hugo bleiben wird. Sie reist nach München, was will sie dort? Ich rege mich auf. Um welche Uhrzeit kommen sie?
Gegen vier.
Wahrscheinlich sagt sie noch sehr viel, vor Erregung höre ich nun wirklich nichts mehr, meine Ohren rauschen, mein Herz klopft. Nach dem Anruf muß ich mich hinlegen. Hugo, wie fühlst du dich wohl heute an? Wie hast du dich damals angefühlt? Fast habe ich es vergessen, aber eine Ahnung von sehr weicher Haut und einem angenehmen Duft kommt langsam zurück. Hugo liebte teure Rasierwässerchen, aber er achtete streng darauf, sie sparsam zu dosieren.
Zu allem Überfluß höre ich auch noch Schritte im Flur. Zum Glück ist es nur Felix. Er sieht mich besorgt an; ob mir etwas fehle?
»Hugo kommt morgen um vier...«
Felix nickt. Gott sei Dank ist er ein praktischer junger Mann. »Oma, was soll ich für dich einkaufen? Kaffee, Kuchen und« -nun muß er lachen - »eine Flasche Likör?«
Ich stampfe mit dem Fuß auf. »Du weißt ja doch alles besser. Sauren Wein trinkt ihr heute, also kaufe, was schlecht und teuer ist.« Wieder kommen mir die Tränen.
Mein Enkel drückt mich aufs Sofa. »Nur die Ruhe, es wird alles gut. Leg dich hin und pflege dich, damit du morgen schön bist. Ich fahre einkaufen.« Schon ist er weg, und ich habe vergessen, ihm Geld zu geben.
Ganz starr liege ich auf dem Sofa und sehe mich wieder als junge Frau, die gerade den schwersten Verlust ihres Lebens erlitten hat: den Tod der großen Liebe. Jeder Tag meiner beginnenden Schwangerschaft wurde zur Qual. Ich dachte an Abtreibung und verwarf diesen Gedanken gleich wieder. Im Grunde wünschte ich mir ein Kind von Hugo, aber wie sollte ich es großziehen? Außerdem war ich viel zu energielos, um mich nach entsprechenden Möglichkeiten auch nur zu erkundigen. Als ich Wochen darauf mit Alice sprach, war es bereits zu spät für einen Eingriff.
Hugo ahnte nichts. Er zog an den Main, arbeitete vormittags in der Buchhandlung und abends in der Kneipe. Anscheinend gefiel ihm dieses Leben ganz gut. Er lernte eine Menge Leute kennen, er hatte bald eine Auswahl spaßiger Frankfurter Sprüche parat, und er schien auch ganz gern dem berühmten Apfelwein zuzusprechen. Es kamen Briefe, die ich nicht beantwortete. Ganz naiv hatte er geschrieben: »Gestern habe ich bis in die Puppen gefeiert.« Ich vermutete, daß er es nicht ohne Puppen getan hatte.
Ich muß eingeschlafen sein. Selbst im Traum kommen immer wieder schreckliche Erinnerungen. Jahrelang bin ich aus dem Schlaf hochgeschreckt, verweint, verwundet, verstört. Es sind stets Abwandlungen des Verlassenwerdens, tiefe Verletzungen meines Selbstwertgefühls, die im Unterbewußtsein noch schmerzen. Hugo hatte meine Schwester mir vorgezogen, sich kaum Gedanken gemacht, wie ich diese Trennung verkraften könne.
Felix kommt mit Susi und Max. Sie schleppen Blumensträuße, eine Torte, Sekt, Weinflaschen, Schnaps, Kaffee, Mineralwasser, Sahne, einen halben geräucherten Lachs und vieles mehr. Mein Schatz räumt alles in den Kühlschrank, Susi stellt die Blumen in die Vase (leider sind es ganz bunte Sträuße, keine edlen weißen Blüten), Max setzt sich zu mir. »Frau
Schwab, der Rest Ihrer Hilfstruppe läßt schön grüßen. Das ist unser kleines Geschenk zur erfolgreichen Renovierung.«
Taktvollerweise erwähnt er Hugos Namen nicht, aber ich bin mir so gut wie sicher, daß Felix eine entsprechende Bemerkung gemacht hat. Ich hole meine Börse und sage, daß ich diese Gaben auf keinen Fall annehmen werde - hungernde Studenten dürfen sich nicht derart in Unkosten stürzen.
Max ist so gekränkt, daß ich das
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