Kalt ist der Abendhauch
die Kinder einen liebevollen Vater. Irgendwann würde er wieder als Buchhändler arbeiten, einen eigenen Laden besitzen, es zu bescheidenem Wohlstand bringen... Aber nun lag Bernhard im Keller, und alle meine Träume zerplatzten.
»Nein«, flüsterte ich, um Hugo nicht zu wecken, »keiner hat ihn hier gesehen, er war überhaupt nicht da.«
Bei Morgengrauen stand ich auf, räumte die Asche aus dem Küchenherd und fachte das Feuer wieder an. Unter dem Tisch fand ich Bernhards Jacke und Unterhose, die ich ebenfalls in die Glut steckte. Wohin mit den Stiefeln? Die Kinder durften sie nicht bemerken, also trug ich sie in den Keller und stellte sie neben das Klepperpaket.
Schließlich saß ich mit den Kindern beim Frühstück. Ulrich und Veronika gingen seit kurzem in die erste Klasse, da die Schulen jetzt erst wieder mit halbwegs regulärem Unterricht begannen. Alle Schüler mußten ein Brikett, in Zeitung eingewickelt, mitbringen.
Veronika war ein Jahr hinterher, aber viele Flüchtlingskinder hatten weit größere Lücken. Ich begleitete die Kleinen täglich über die große Kreuzung. Damals gab es zwar viel weniger Autos, aber ich fürchtete die schlechten Bremsen und Reifen der alten Lastwagen. :
Als ich wieder in der Küche stand, kam Hugo die Treppe herunter und rieb sich die Augen. Er war nicht so freundlich wie sonst, ich bekam keinen Kuß.
»Wir müssen Bernhard anziehen und aufs Sofa legen. Dann sagen wir dem Arzt, wir hätten ihn heute morgen tot aufgefunden. Wo sind seine Sachen?«
Ich deutete auf den Herd und fing - weil ich die Vorwürfe bereits kommen sah - wieder an zu weinen. »Wo sind seine Papiere?« fragte Hugo ahnungsvoll. Dann angelte er mit der Zange die verkohlte Jacke aus dem Feuer. Tatsächlich gab es einen papierartigen Klumpen in der Tasche, der jedoch nicht mehr zu retten war.
Aber Hugo schimpfte nicht, er sah ein, daß er es mit vollendeten Tatsachen zu tun hatte. Er wußte auch allzu gut, daß er Bernhards Kleider aus zivilen Tagen höchstpersönlich gegen Eier und Kartoffeln eingetauscht hatte, weil sie ihm selbst nicht paßten. »Hat ihn wirklich keiner gesehen?« sagte er nur.
Ich hielt seine Frage für ein gutes Zeichen und schüttelte den Kopf, obgleich ich es letztlich nicht wissen konnte. »Es war stockdunkel und regnete«, sagte ich.
In Hugos Kopf arbeitete es. »Bring mir alle Zigaretten«, befahl er, »ich werde versuchen...« Ich sah ihn fragend an. »Der Polier ist ein süchtiger Raucher. Ich werde versuchen, ihm Mauersteine abzuschwatzen.«
Genau wußte ich zwar nicht, was Hugo mit dem Baumaterial vorhatte, aber ich gehorchte und brachte alle noch verpackten amerikanischen Lebensmittel, die Zigaretten und den Kaffee herbei und nahm auch den Rucksack aus dem Schrank.
Hugo schüttelte den Kopf. »Ich nehme besser den Anhänger«, sagte er und wickelte bloß die Zigaretten in Zeitungspapier, dann suchte er seinen Kleppermantel. »Ach so«, sagte er nur und fuhr im Pullover zur Baustelle.
Abends kam er keuchend heim. »Ich habe mich bei den Amis krank gemeldet.« Die Kinder saßen am Tisch und malten, er konnte keine Einzelheiten erzählen. Später trug er Ziegelsteine und einen Sack Zement in den Keller. »Morgen kommt die zweite Ladung«, versprach er.
Erst als Ulrich und Veronika im Bett lagen, stiegen wir gemeinsam hinunter. Hugo zeigte mir eine Ecke in der Waschküche, wo er Bernhard einzementieren wollte. Ich plädierte für den Kohlenkeller. »Nein«, sagte Hugo in kluger Voraussicht, »da gibt es keinen Kamin. Aber in der Waschküche ist die eine Ecke ausgemauert, wenn ich den Kamm verbreitere, wird es niemandem auffallen.« Wie genial sein Plan war, zeigte sich dann vierzig Jahre später, als im ehemaligen Kohlenkeller der Boiler für die Gasheizung installiert wurde.
Hugo arbeitete zwei Nächte lang. Als ihm der Schacht bis zur Brust reichte, stellte er den immer noch stocksteifen Bernhard aufrecht in den engen Schlund. Da der Tote abgemagert bis auf die Knochen war, paßte ihm die Röhre wie maßgeschneidert. Hugo wollte seinen Kleppermantel nicht mehr zurückhaben; er schämte sich und ließ ihn als Totenhemd und letztes Geschenk um Bernhards traurige Gestalt gehüllt. Am dritten Tag ließ er die Stiefel in die Friedhofsmauer gleiten und dichtete sie ab.
Meine Erleichterung und Dankbarkeit kannte keine Grenzen, aber Hugo schien verändert. Er sprach wenig, wurde nervös ohne Zigaretten und machte freiwillig ein paar zusätzliche Schichten bei den Amis,
Weitere Kostenlose Bücher