Kalt ist der Abendhauch
obwohl er dringend Schlaf nötig gehabt hätte. Ich hatte nicht nur meinen Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen. Wie konnte ich Hugo, der als junger Mann noch nicht einmal einen Rehbock ausnehmen mochte, zu solchen Taten zwingen. Immerhin hatte der Krieg auch ihn verändert, man könnte sagen, ihm manche Empfindlichkeit abgewöhnt. Die leicht defekte Leica meines Bruders Heiner (die auch im elterlichen Keller deponiert war) konnte Hugo gegen einen Parka mit pelzgefütterter Kapuze eintauschen. Er sah hinreißend darin aus.
Ich wagte kaum mehr, meinen Nachbarn in die Augen zu sehen, ich erwartete geradezu, daß man mich auf den abendlichen Besucher ansprechen würde. Aber vielleicht hatte man Bernhard wirklich nicht bemerkt.
In diesen Tagen, an denen ich am allerwenigsten an meine verstreute Familie dachte, kam ein Brief meiner Mutter. Sie würde demnächst ihren fünfundsechzigsten Geburtstag begehen und sehnte sich danach, ihre Töchter um sich zu versammeln, Söhne habe sie ja keine mehr. Außerdem war ein milder Vorwurf in ihren Zeilen enthalten, daß Hugo sich so lange nicht bei Ida gemeldet hatte. Vielleicht ginge es ihrer ältesten Tochter besser, wenn sie wieder mit ihrem Mann zusammenleben könne. Es war klar, Mutter hatte Verdacht geschöpft.
Als wir den Brief gelesen hatten, hielten wir uns beide für schlechte Menschen. Hugo sagte spontan: »Ich fahre morgen zu meiner Frau.« Diesen Ausdruck hatte er noch nie für meine Schwester verwendet, und er kränkte mich.
Aber auch ich wollte Mutter auf keinen Fall enttäuschen und ihr gerne vorführen, wie wohlgeraten meine Kinder waren. Doch dann fiel mir ein, daß Veronika und Ulrich kleine Verräter waren, die in aller Unschuld fragen würden, warum Hugo auf einmal neben Ida im Bett lag. Was sollte ich machen? Ich konnte die Kleinen schließlich nicht allein lassen. Hugo zuckte uninteressiert mit den Achseln. Er war in Gedanken weit weg von mir.
Eigentlich hatte ich erwartet, daß meine Mutter nach dem Ende des Krieges zu mir in die Stadt ziehen wollte. Verglichen mit anderen Soldatenwitwen hatte ich ausreichenden Wohnraum, und es war fast ein Wunder, daß er mir erhalten blieb. Aber Mutter hing an Ida und wollte in ihrer Nähe wohnen; außerdem hatte sie, als ihr erster und liebster Sohn Ernst Ludwig gefallen war, eine wahre Affenliebe zu seinen beiden Kindern entwickelt. Mutter hatte auf dem Bauernhof feste Pflichten: Sie kümmerte sich um Gemüsegarten und Enkel, sie fütterte die Hühner, strickte und stopfte. Wahrscheinlich war sie viel tüchtiger als ich. Hugos Tochter Heidemarie hatte eine Schneiderlehre begonnen. Und meine Schwägerin Monika, die in meinem Alter war, schien im Stall und auf dem Acker Schwerarbeit zu leisten. Nun, sie war es von Jugend an gewöhnt.
Hugo machte seinen Vorsatz wahr und fuhr bereits am nächsten Wochenende aufs Land; der fünfundsechzigste Geburtstag wurde erst zwei Wochen später gefeiert. Mit ernstem Gesicht kam er zurück. Ida sei auffallend kraftlos und matt, seiner Ansicht nach könne sie nicht nur auf die Vitamintabletten von Alice vertrauen. Der Dorfarzt habe zwar keine chronische Krankheit festgestellt, aber dringend empfohlen, Ida von einem Internisten untersuchen zu lassen, was sie bisher aus Antriebsschwäche versäumt hatte. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich sofort an eine Krebserkrankung dachte und -bei allem Mitleid - Toten- und Hochzeitsglocken hörte. Es ist mir bis heute ein Rätsel, warum der Arztbesuch dennoch ständig verschoben wurde. Erst die verantwortungsbewußte Alice holte
Ida einfach ab und brachte sie zum Chefarzt ihres Krankenhauses. Aber das geschah erst, nachdem wir uns alle zum Geburtstagsfest unserer Mutter in Klein Felda getroffen hatten.
Mama sah gut aus, schlanker als früher, aber nicht mager. Früher hatte sie behauptet, zu den Stadtmäusen zu gehören, aber nun gefiel sie sich ausnehmend gut als Feldmaus. Sie trug zwar ein betagtes schwarzes Kleid, hatte es aber unter Heidemaries Beistand mit dem Spitzenbesatz eines verschlissenen Kopfkissenbezugs aufgeputzt. Hugo hatte ihr längst den Familienschmuck aus dem Luftschutzkeller wieder ausgehändigt, und sie hatte ihn zur Feier des Tages reichlich auf Hals, Busen, Fingern und Handgelenken verteilt.
An meiner Mutter klebte ständig Monikas jüngster Sproß Schorsch, der im Alter meines Sohnes war, aber um ein gutes Stück größer und breiter. Ich war froh, daß sich Hugo doch entschlossen hatte, bei meinen
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