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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Menschenseele etwas zu verraten. Bis heute habe ich mein Versprechen gehalten.« Ich weiß nicht, ob ich Hugo dafür dankbar sein soll. »Der Brief war an dich gerichtet«, sagt er. Den wörtlichen Inhalt habe er nach all den Jahren vergessen.
    »Gar nichts mehr im Kopf?« frage ich ungeduldig.
    Meine böse Stimme treibt Hugo an: »Liebe Charlotte, weine nicht um mich, so lautete - glaube ich - der Schluß des Briefes.«
    Bei diesen Worten zerfließe ich in Tränen wie schon seit langem nicht mehr. Hugo streicht mit seiner dreifingrigen Hand über meinen Rücken und erinnert mich dadurch an Antons Bindegewebsmassagen. Zornig wende ich mich ab.
    »Wenn du dich derartig aufregst, erzähle ich überhaupt nichts mehr«, sagt Hugo, »ich habe bloß gesagt, daß ich den Wortlaut nicht auswendig weiß - aber ich erinnere mich selbstverständlich an die Quintessenz.«
    So sind die alten Männer: weitschweifig und umständlich, anstatt zügig zur Sache zu kommen. Ich hätte es wissen müssen. Gut, daß ich keine Stoffservietten ausgeteilt habe, in das Papier kann ich mich wenigstens schneuzen.
    Das Telefon klingelt im Flur. Es ist Heidemarie, die von einer Raststätte aus anruft. Ob ihr Vater schon seine Abendtabletten eingenommen habe. Ich winke Hugo, er mag nicht und tippt auf seine Ohren.
    »Ja, Heidemarie, alles erledigt, mach dir keine Sorgen«, lüge ich. Aber ich bin pflichtbewußt genug, die Pillen aus der Schachtel zu nehmen und Hugo zur Einnahme zu nötigen. Endlich kommt er wieder zum Thema.
    In Alberts Brief stand nur ein kurzer Abschiedsgruß, insofern bringt er mir keine neuen Erkenntnisse. Offensichtlich war mein Bruder zu verstört, um lange Begründungen für seinen
    Selbstmord abzugeben. Aber er machte eine Andeutung, daß Vater jetzt endlich mit ihm zufrieden sein müsse. Hugo forderte von Papa noch am Totenbett eine Erklärung für diesen Satz.
    Ebenso wie ich hat Hugo noch genau im Gedächtnis, daß alle Familienmitglieder - außer Albert und Vater - an jenem Sonntag in der Kirche waren. Papa gab schließlich zu, daß er, allein im Haus, plötzlich den Wunsch verspürt hatte, sich mit seinem jüngsten und schwierigsten Sohn zu unterhalten. Er suchte und rief nach Albert, fand ihn aber nicht. Es war absolut ungewöhnlich, daß Vater durchs ganze Haus stiefelte und schließlich auf den Dachboden stieg. Dort sah er Albert in Frauenkleidung vor einem Spiegel posieren und kokett die Röcke lüpfen; sein Sohn war in sein bizarres Spiel derart versunken, daß er die Schritte nicht kommen hörte. Zu einer einleuchtenden Erklärung war er unfähig. Vater entnahm den wirren Worten, daß der Satan persönlich von seinem Sohn Besitz ergriffen hatte.
    Wahrscheinlich wollte Albert darlegen, daß er von einem unbegreiflichen Zwang getrieben wurde. Vater zeigte aber eine derartig starre und hilflose Verständnislosigkeit, daß beide aneinander verzweifeln mußten. »Du bist nicht mehr mein Sohn, in meinem Haus ist kein Platz mehr für dich«, waren Vaters Worte. Leider wußte Albert, wo sich die Schußwaffe unseres Bruders befand.
    Das Furchtbare ist, daß ich nun meinen Vater zum zweiten Mal verliere. Er hatte Albert auf dem Gewissen, er mußte den Schuß gehört und geahnt haben, was geschehen war, ließ es aber trotzdem unbarmherzig darauf ankommen, daß ein beliebiges Familienmitglied den Toten entdeckte. Meine Tränen fließen jetzt stetig und unhaltbar. Es ist eine Entdeckung, die ich erst im Alter gemacht habe: Wie sehr habe ich mich in den Menschen getäuscht.
    »Es gibt kein einziges Geschöpf, das wahrhaft gut ist«, schluchze ich, denn ich habe lange darüber nachgedacht. Alle meine Freunde und Bekannten, meine Eltern, Geschwister, Kinder und Enkel haben bei näherem Hinsehen unsympathische Eigenschaften. (Ich selbst natürlich auch.) Wie kann es auch anders sein, Hugo zitiert Oscar Wilde: »Kein Mensch ist schlecht, keiner - sag ich -, und ich verbürg' es.«
    Sicherlich haben wir uns beide unser Wiedersehen anders vorgestellt. Tränen, Bier, Kaffee und Likör fließen reichlich. Schließlich hole ich den halben Lachs auf silberner Pappe und zwei Gabeln. Der gepflegte Tisch sieht inzwischen barbarisch aus, Pillen und Gläser, vollgeschneuzte Papiertücher und schmierige Teller, dazwischen der rosa Fisch, den wir in einem Anfall unerhörter Gier ohne Brot verschlingen.
    »Wenn wir so weitermachen, sind wir morgen krank«, sagt Hugo, »und das wäre schade. Begleitest du mich ins Hotel? Für den Rückweg

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