Kalt ist der Abendhauch
spendiere ich dir ein Taxi.« Das ist eine gute Idee, wir kommen an die frische Luft, und das Leben geht sicher auch ohne uns weiter.
In der Nacht wird mir schlecht; was ich an Torte, Likör, Kaffee und Räucherlachs zu mir genommen habe, gebe ich qualvoll wieder ab. Alter schützt vor Torheit nicht, wie wahr.
Am nächsten Morgen bin ich froh, daß Hugo im Hotel frühstückt und ich in Ruhe das schmutzige Geschirr spülen kann. Ein fleißiger Hausmann war er noch nie.
Um elf sitzen wir wieder beisammen. »Erzähl mir von deinen Kindern«, sagt Hugo, weil er weiß, daß ich diese Bitte nicht ungern erfülle. »Was macht meine liebe Veronika?« Und er singt tatsächlich mit krächzender Stimme: »Die ganze Welt ist wie verhext! Veronika, der Spargel wächst!« In jener Zeit, als Hugo bei mir wohnte, hat er meiner kleinen Tochter diesen
Schlager beigebracht, nicht ohne mich dabei anzüglich zu fixieren. Die Zweideutigkeit hat er inzwischen vergessen.
Das Fotoalbum liegt bereit. Veronika hat früh geheiratet und lebt nun schon lange mit ihrem Mann in Kalifornien. Die drei Enkel sprechen kein Deutsch. Es war einmal die Rede davon, daß sie in Heidelberg studieren sollten, aber daraus wurde nichts. Hugo bestaunt die amerikanischen Sportskanonen, die auch mir sehr fremd sind. Als ich noch jünger war, flog ich ein paarmal nach L. A. Mein Schwiegersohn arbeitet als Konstrukteur in der Flugzeugindustrie, er heißt Walter M. Tyler, und sie haben drei Söhne: Mike, John und Benjamin. Ich geniere mich ein wenig, weil sie ganz kleine kurzgeschorene Köpfe und gewaltige Brustkästen haben. Aber seine Heidemarie hat überhaupt keine Kinder.
»Und wie hieß der Junge?« fragt Hugo. Regine hat er ganz aus seinem Kopf verdrängt.
»Das weißt du doch, mein Sohn heißt Ulrich, seit eh und je. Der einzige in der Familie, der Karriere gemacht hat, immerhin ist er Professor für Sinologie.«
»Ach ja«, brummelt Hugo, »das war der mit dem chinesischen Tick. Hat er etwa auch Kinder?«
Nun kommt das zweite Album an die Reihe, und ich kann mit einem gewissen Stolz die Fotos von Friedrich und Cornelia vorzeigen.
»Die sieht dir aber verdammt ähnlich«, meint Hugo und kann sich an Cora gar nicht satt sehen, »ist sie schon verheiratet?«
»Verwitwet, stell dir vor«, sage ich, »aber es war keine Tragödie. Ein alter Knacker mit viel Geld, keiner weint ihm eine Träne nach. Cora ist ein reiches Mädchen.«
»Stimmt, du hast es mir geschrieben«, sagt er und gafft meine rothaarige Enkelin weiter an, »die würde ich gern mal kennenlernen.«
Ich verschweige ihm alle Sorgen, die ich mir um Cora mache. »Sie ist Malerin«, behaupte ich und erkenne, daß Cora hundertmal mehr Eindruck auf alte Esel macht als die drei muskulösen Baseballspieler. »Und zwar in Italien, in Florenz«, füge ich hinzu, »ich habe sie leider lange nicht gesehen.«
»Heidemarie ist eine treue Seele«, sagt Hugo, um auch irgend etwas in die Waagschale zu werfen.
Sofort fällt mir die Medizin ein, und ich klaube die Pillen aus der Dose. »Wofür nimmst du das ganze Zeug?« frage ich.
Hugo muß nachdenken: »Labiler Hochdruck, erhöhte
Harnsäurewerte, Altersdepression und - na ja - die Prostata.«
Dacht' ich mir schon.
Hugo sucht ein anderes Thema. »Gehst du noch manchmal ins Kino?« fragt er.
»Du hast Probleme mit dem Hören, ich mit dem Sehen«, sage ich, »eigentlich ist es schon sehr lange her ... Wann waren wir das letzte Mal gemeinsam...?«
Hugo überlegt. »Mensch«, sagt er erfreut, »das war doch >Die Sünderin!< Einfach fabelhaft! Hildegard Knef völlig nackt -Gott, wie hat man sich damals aufgeregt. Wann mag das gewesen sein?«
Ich weiß es genau, es war kurz nach meinem vierzigsten Geburtstag, als ich begann, mich heimlich mit Hugo zu treffen. Natürlich waren wir in den Jahren danach noch oft zusammen im Kino, aber bezeichnenderweise erinnert er sich nur an die nackige Hilde.
Auf einmal kommt ihm die Idee, eine Hausbesichtigung zu fordern. Schwerfällig erheben wir uns. Aber Hugo steuert nicht zur Mansardentreppe, sondern strebt in den Keller.
Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu.
»Schon gut, Charlotte«, sagt er, »ich finde auch allein hinunter.«
Das will ich aber nicht.
Wenige Minuten später stehen wir vor Bernhards Grab. Hugo klopft an den Mauern herum. »Solide Arbeit«, sagt er stolz, »das soll man mir erst mal nachmachen.«
Ich habe diesen düsteren Ort nach Möglichkeit gemieden, aber auf einmal muß ich kichern.
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