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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Mittagspause stattfinden, wenn Hugo frei hatte. Miele selbst arbeitete halbtags bei einer Versicherung. Sie kam erst heim, wenn die flüchtigen Vögel ausgeflogen waren. Mir fiel es nie leicht, Ulrich, Veronika und vor allem die kleine Regine in Antons Obhut zu lassen, ich hatte stets Gewissensbisse und malte mir aus, welche gräßlichen Unfälle zu Hause geschehen könnten. Aber anfangs klappte es vorzüglich; wegen meines »Kaffeekränzchens« nahm sich Anton alle vier Wochen einen Nachmittag frei und beaufsichtigte die Kinder.
    Beinahe werde ich rot, wenn ich an jene Zeit zurückdenke. Illegal, wie in einem Stundenhotel, mußten wir uns hastig in der Kälte eines fremden Schlafzimmers ausziehen und die kurze Zeit nutzen. Es war, als ob unsere geistige Vertrautheit, die doch der wichtige Teil unserer Beziehung war, ebenso wie die Kleider abgestreift wurde und nur noch in sporadischen Briefen weiterlebte. Heute würde man sagen, wir waren verrückt nacheinander. Nie wieder habe ich Sexualität so genossen wie damals, nie wieder war unsere Freundschaft so auf unsere Körper reduziert, nie wieder haben Hugo und ich so wenig miteinander geredet. Auch gab es Tabuthemen, über die wir sowieso nicht sprachen: Bernhards Tod, Idas Krankheit, meine Onkelehe, mein drittes Kind, unsere gegenseitigen Verletzungen. Nach dem Schäferstündchen verließen wir Mieles Wohnung, Hugo eilte zu seinem Laden, ich zum Bahnhof.
    Hin und wieder besuchten Hugo und Ida uns hier, und wir machten entweder einen Spaziergang durch den Platanenhain auf der Mathildenhöhe oder zum Großen Woog oder gingen alle gemeinsam ins Kino. Aus sentimentalen Gründen hatte Ida bereits dreimal mit ihrer Tochter »Grün ist die Heide« gesehen, aber sie konnte Hugo nicht dafür erwärmen. Er liebte italienische und französische Filme. Es war wohl bei »Fanfan, der Husar«, als Hugo meine rechte, Anton meine linke Hand ergriff und sie sich versehentlich berührten. Meistens war das allerdings unmöglich, weil Ida die Sitzordnung bestimmte. Auch Anton spürte wohl eine erotische Spannung zwischen uns, aber er schwieg.
    Alice hat mich gewarnt. Außer Mielchen war und blieb sie meine engste Vertraute. 1951 wurde meine jüngste Schwester schwanger und war überglücklich. Sie hatte zwar ihr Studium noch nicht abgeschlossen, aber sicherlich würde sie alles schaffen - das Examen und das Kinderkriegen. Ihr Zustand sensibilisierte sie offenbar für das Wohlergehen aller Neffen und Nichten, insbesondere für das meiner vierjährigen Regine. »Sie gehört zu den hyperaktiven Kindern«, erklärte sie mir, »das ist sicher eine große Belastung für dich. Aber ich finde es unverantwortlich, wenn ein Blinder auf so ein Wiesel aufpassen muß.« Alice erreichte aber nur, daß sich mein Gewissen bei den geheimen Liebestreffen noch stärker meldete und mir zuweilen beinahe die Lust raubte.
    Eines Tages wurden wir - Hugo und ich - von Mieles Ehemann Spirwes im Bett erwischt. Noch nie zuvor war er von derartig heftigen allergischen Niesanfällen gebeutelt worden, daß ihn sein Chef nach Hause schicken mußte. Aus Pflichtbewußtsein hätte er eher die ganze Abteilung naßgeprustet, als freiwillig das Feld zu räumen. Miele versicherte uns stets, auf den Arbeitseifer ihres Ehemanns sei Verlaß, wir könnten fest darauf bauen, ihm niemals zu begegnen.
    Um so peinlicher war es, als der niesende Mann mit seiner Aktentasche das Schlafzimmer betrat und uns gar nicht wahrnahm, da er wegen seines vibrierenden Zwerchfells nur mühsam aus der Hose steigen konnte. Ich zog die Decke über den Kopf und stellte mich tot. Hugo würde wissen, wie sich ein Kavalier in solchen Situationen zu rechtfertigen hatte.
    Hugo räusperte sich einleitend, der Allergiker geriet in Panik und schrie Zeter, Mordio und Hilfe. Das Niesen war ihm vergangen.
    »Würden Sie mir bitte mein Hemd reichen«, sagte Hugo höflich, »es liegt hinter der Kommode.«
    Spirwes gehorchte, entdeckte aber auch meinen Unterrock und glaubte, Hugo würde es mit Miele treiben. »Moi Flint!« rief er - und, wenn ich nicht irre, sogar »Unselische!«
    Verzweifelt suchte er im Kleiderschrank nach seinem Gewehr. Ich wußte, daß Miele es gegen Lebensmittel getauscht hatte, und versuchte ihn zu beschwichtigen: »Es dud mer leid, Spirwes, des Mielsche hett mer emol sein Schlissel geliehe, damit ich mer e Schärmsche hol, wenns pletzlich rechne deht! Nur dadefür sin mir kumme. Derf ich eich iebrichens bekannt mache...?«
    Die Herren

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