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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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»Eigentlich kann er sich nicht beklagen«, sage ich, »er ist mir immer ganz nahe.«
    Zum ersten Mal können wir unbefangen über das Soldatengrab sprechen. Hugo inspiziert auch die neue Gasheizung und hört sich an, wie sehr ich bei Renovierungen gezittert habe. »Oben wohnt wohl niemand mehr?« fragt er und macht dabei ein Gesicht, als wolle er sofort dort einziehen.
    Kaum sitzen wir wieder etwas atemlos am Tisch, als das Telefon läutet. Schon wieder Heidemarie. »Ich möchte von Frau zu Frau mit dir sprechen«, sagt sie. Sofort nehme ich eine Igelstellung ein, denn das wird nichts Gutes bedeuten. »Kann Vater mithören?«
    Erstens kann er nicht, zweitens will er nicht. Aber gehorsam trage ich das Telefon in den Flur, Hugo wird denken, es sei eines meiner Kinder.
    »Ich plante eine kosmetische Brustverkleinerung«, sagt meine Nichte, »nicht etwa aus Eitelkeit, sondern weil ich unter Rückenschmerzen leide. Bei der Voruntersuchung hat man heute einen Knoten entdeckt. Wenn ich Pech habe - aber das sieht man erst bei der Gewebeentnahme -, muß man amputieren, und dann kann ich nicht so schnell...« Anfangs war sie übertrieben gefaßt und vernünftig, jetzt heult sie los. »Natürlich kann ich dir nicht zumuten, Papa so lange zu betreuen, du bist ja beinahe ebenso alt wie er. Vielleicht könnte Ulrich sich nach einem vorübergehenden Pflegeplatz für meinen Vater umsehen... «
    Ich beschwichtige sie. Vorläufig ist alles kein Problem, Hugo und ich haben uns viel zu erzählen, das Hotel ist schnell zu erreichen, wir werden heute gemeinsam dort essen. Heidemarie ist beruhigt. Aber kann ich Hugo das alles vorenthalten? Nun, mindestens werde ich warten, bis sich der Krebsverdacht bestätigt oder auch nicht.
    Hugo fragt nicht, wer angerufen hat. Ihm ist etwas eingefallen: »Ich habe oft über Albert nachgedacht, er war vielleicht gar nicht schwul...«
    Darauf bin ich inzwischen auch gekommen. »Transsexuell«, sage ich.
    »Nein«, meint Hugo, »er war ein Crossdresser. Ich habe gelesen, daß fast jeder fünfte Mann zuweilen Lust hat, in Frauenkleidern seine geheime weibliche Seite auszuleben. In Amerika treffen sie sich einmal im Jahr und toben sich aus, danach kehren sie wieder heim zu Frau und Kindern.«
    Jeder fünfte Mann? Dann müßte ich doch viele kennen. Ich werde nachdenklich und gehe sie im Geiste alle durch.
    »Wann wollte mich Ida abholen?« fragt Hugo. Er meint natürlich Heidemarie, aber auch ich verwechsle zuweilen Namen, oder sie fallen mir gar nicht ein. Nun muß ich ihm eröffnen, daß sich ihr Eintreffen auf ungewisse Zeit verzögern könnte.
    Es rührt mich, wie sehr sich Hugo über die Galgenfrist freut. Seltsamerweise erkundigt er sich nicht nach dem Grund.
    Hugo und ich haben beschlossen, heute mittag nur ein Tomatenbrot zu essen und uns abends im Hotel etwas Gutes zu gönnen. Natürlich ist das etwas problematisch, denn ab acht Uhr vertrage ich eigentlich nichts mehr.
    Nach unserem Imbiß legt sich Hugo aufs Sofa und ist im Nu eingeschlafen. Eigentlich ist es mein Siesta-Plätzchen, aber das kann er ja nicht wissen. Ich sitze neben ihm und schaue aus unmittelbarer Nähe in seinen halboffenen Mund: eine
    Oberkieferprothese, im Unterkiefer eine Notlösung aus Füllungen, Kronen, Stiftzähnen und Brücken. Ich kenne mich noch aus, schließlich habe ich eine ganze Weile als Zahnarzthelferin Geld hinzuverdient. Beim Einatmen hört man einen Schnarch-, beim Ausatmen einen Pfeifton. Immer noch trägt er seinen Ehering. Beide Hände umfassen die Zeitung, die er aber nicht gelesen, sondern nur zur Tarnung aufgeschlagen hat. Ich habe Lust, ihm die Fliege abzunehmen und den obersten Hemdknopf zu öffnen, aber wahrscheinlich würde ich ihn dadurch wecken.
    Es gab eine Zeit, da haben wir jede Minute genutzt, um uns bei heimlichen Treffen zu lieben. Das ist lange her.
    Nach den verstohlenen Küssen an meinem vierzigsten Geburtstag überkam uns eine fiebernde Sehnsucht nach intimer Nähe. Und wir entdeckten auch eine Möglichkeit: Meine Freundin Miele zog nach Frankfurt, wo ihr Mann eine Stelle beim Ordnungsamt gefunden hatte. Sie lud uns ein, ihr neues Heim zu besichtigen, aber Anton wollte nicht mitkommen. Er haßte Bahnreisen und blieb mit den Kindern zu Hause. Als ich
    Mielchen meine Liebesprobleme gestand, erwies sie sich als perfekte Kupplerin. Sie bot mir an, mich einmal im Monat in ihrer Wohnung mit Hugo zu treffen. Es mußte wochentags sein, wenn Spirwes, ihr Mann, im Büro saß, und es mußte in der

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