Kalt ist der Abendhauch
und wollte vermitteln, bekam aber zum Dank eine Ohrfeige. Ida hatte unterdessen mit Monikas Freund einen Flirt begonnen, so daß Fanni über die Schlechtigkeit der Welt in Tränen ausbrach. Anton wollte dem Hund eine Strafe verpassen und schlug mit seinem Blindenstock zu, traf aber leider Alice. Als schließlich jeder mit jedem Krach bekam, stand ich plötzlich mit Hugo in der Küche, und wir küßten uns, als müßten wir für den Rest unseres Lebens einen Vorrat anlegen.
Es ist anstrengend, in das ehemalige Schlafzimmer hinaufzusteigen, um in der Mottenkiste zu wühlen, aber ich brauche ein Kleid für Hulda. Eigentlich hatte ich an das lichtgelbe Deux-pièces mit Spitzenkragen gedacht, doch leider hat es fürchterliche Stockflecken. Soll ich lieber das jadegrüne mit den aprikosenfarbenen Schmetterlingen aus den dreißiger Jahren nehmen? Feinster Crêpe de Chine. Ich entscheide mich dann doch für das graue Flanellkostüm, das ich an meinem vierzigsten Geburtstag trug und in dem ich Hugo so gut gefallen habe. Schwarze Schuhe wären zwar passender, aber aus sentimentalen Gründen zwänge ich Hulda in die elfenbeinfarbenen Spangenschuhe aus Vaters Werkstatt.
Ich habe noch genug Zeit; in aller Ruhe werde ich den Kaffeetisch decken und mich ganz am Schluß selbst umziehen. Da ich in letzter Zeit dazu neige, mich zu bekleckern, darf das neue Blümchenkleid erst zum Abschluß aller Vorbereitungen übergestreift werden.
»Gut siehst du aus, Hulda«, sage ich, »eigentlich müßte ich dir noch die Perlenkette umlegen, aber ich finde sie partout nicht. Mir ist fast so, als ob Cora sie mir abgeluchst hat, dieses Aas.« Wie spreche ich von meiner einzigen Enkelin - ich sollte froh sein, sie zu haben.
Sollte Hugo aber zu früh kommen, schießt es mir durch den Kopf, wäre es peinlich, wenn ich im grünen Jogginganzug die Tür aufmache. Vielleicht sollte ich sofort alle riskanten Tätigkeiten hinter mich bringen, damit ich bereits eine Stunde vorher empfangsbereit bin. Und so geschieht es. Ich stöbere eine bestickte Tischdecke auf (eigentlich müßte man sie noch bügeln,
aber so weit geht die Liebe denn doch nicht), drei Meißner Tassen und zwei Teller, die glücklicherweise noch vorhanden sind, und das wenige von den Enkeln verschonte Silber. Schwarz angelaufenes Besteck schäle ich aus vergilbten Leinenstreifen, schon seit Jahren wollte ich Silberputzmittel kaufen. Seufzend nehme ich Klopapier und Zahnpasta zu Hilfe, ich weiß, eine Sünde wider die reinliche Lehre. Drei Teelöffel, drei Kuchengabeln, der Tortenheber, ein Messer und der Sahnelöffel werden poliert, den Rest soll der Teufel holen. Servietten! fällt mir ein. Es gab Zeiten, da habe auch ich mir den Mund mit gestärktem Damast und nicht mit Kleenex abgewischt.
Anton kommt mir schon wieder in den Sinn. »Nu mach net son Buhei, Lotti!« pflegte er zu sagen, wenn ich zu festlichen Gelegenheiten Tafelsilber und Kristallgläser heraussuchte. Für ihn spielte das Äußerliche keine große Rolle; dafür freute er sich, wenn es lecker schmeckte. Ob die gekaufte Torte gut ist? Als ordentliche Hausfrau sollte man eigentlich wissen, was auf den Tisch kommt. Vorsichtig hole ich das Tranchiermesser und teile die Torte in Viertel. Nun kann ich ein winziges Stück abzweigen und alles wieder adrett zusammenfügen. Es schmeckt viel zu gut, ich muß den Vorgang wiederholen. Vermutlich bin ich sehr hungrig, denn seit Tagen habe ich vor Aufregung kaum gegessen. Als die Torte nur noch aus drei Vierteln besteht, bin ich ein wenig bestürzt. Dafür werde ich mich beim gemeinsamen Mahl zurückhalten; es reicht gewiß, Hugo ist kein großer Kuchenliebhaber.
Um drei Uhr schellt es, dabei habe ich zwar das Kleid bereits an, aber weder Schuhe noch Schmuck. Verflucht, so fix wie früher bin ich auch nicht mehr. Barfuß gehe ich an die Tür, und mir wird schwarz vor den Augen. Dieser Mann kann doch wohl nicht Hugo sein! Leider sind Schornsteinfeger auch nicht mehr das, was sie einmal waren, keine Zylinder als
Erkennungsmerkmal. Sie stellen Messungen an, übergeben eine Aufstellung mit unverständlichen Emissionswerten sowie eine saftige Rechnung, aber aufs Dach steigt keiner mehr. Muß es ausgerechnet heute sein! Zum Glück findet der Kaminfeger auch ohne mich den Weg zum Gasbrenner.
Um vier ist Hugo immer noch nicht da. Ich ziehe die Schuhe aus - wenn man an Turnschuhe gewöhnt ist, kann man es nicht lange in Stöckelschuhen aushalten. Am liebsten würde ich auch die lange
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