Kalt ist der Abendhauch
Aus dem restlichen Tabak drehte er neue Glimmstengel, die er genießerisch nach dem Mittagessen rauchte. Ulrich liebte diese Expeditionen, die er dank Antons Hilfsbedürftigkeit als Abenteuer erlebte. Es tat ihm gut, ein wenig männlichen Pioniergeist zu atmen. Anders lief es mit Veronika; sie lehnte Onkel Anton ab. Vielleicht, weil er als Regines Vater fungierte und sie vor Eifersucht schier platzte. Oft kränkte sie ihren Ziehvater ganz bewußt, indem sie mit Arroganz von ihrem »richtigen Papa« sprach, an den sie sich aber nicht erinnern konnte. »Mein Vater war schließlich Lehrer«, sagte sie, »der wußte alles.«
Anton nahm einen kleinen Kredit bei der Bank auf, um eine Massagebank und eine spanische Wand für die provisorische Umkleidekabine zu kaufen. Ein Telefonanschluß wurde beantragt, das Wohnzimmer weiß gestrichen, ein Terminkalender angelegt - der von mir geführt wurde - und ein neuer Ofen gekauft. Für heutige Begriffe war es primitiv, wir fanden indessen alles äußerst elegant. Die Investitionen lohnten sich, nach drei Monaten war der Terminkalender prall gefüllt. Es kamen nicht nur gebrechliche Kassenpatienten aus der Umgebung angehinkt, auch Autos hielten vor der Tür. Neureiche Damen stiegen aus, ließen ungeniert die Hüllen fallen und sich durchwalken. Sie schworen auf Antons manuelle
Heilkraft; »der Blinde« wurde Mode. Hugo schien das zu amüsieren. Er schickte mir eine Dürer-Postkarte. »Knetende Hände« stand darunter.
Ich öffnete zwar den Patienten die Tür, zog mich aber dann in die Küche zurück. Neue Termine trug ich im Flur ein, wo ein Tischchen mit Telefon und Schreibblock stand. Regine war drei Jahre alt, man konnte sie keine Minute allein lassen. Sie war ein unruhiges Kind, schnell gekränkt und heftig, aber in manchen Sternstunden auch hinreißend lustig. Anton liebte sie inbrünstig. Jeden Abend kam sie zu uns ins Bett gekrabbelt und verlangte nach einer Rückenmassage. Erst wenn sie darüber eingeschlafen war, konnte ich sie wegtragen.
Anton war stolz auf seine Einnahmen, die tatsächlich fast das Dreifache seines früheren Gehalts betrugen. Sein Geld floß ganz selbstverständlich in die gemeinsame Haushaltskasse; wir konnten uns frisches Obst und Gemüse leisten, für Ulrich ein Fahrrad kaufen, für Veronika ein uraltes Klavier, für die Kleine einen Sandkasten. Anton gönnte sich ein neues Radio mit einem sogenannten magischen Auge, das die Kinder im halbdunklen Zimmer voller Bewunderung anstaunten. Dieses grüne Auge wurde erst rund und schön, wenn der Sender richtig eingestellt war, sonst kniff es sich katzenartig zusammen.
Im Jahre 1951 wurde ich vierzig, fürchtete mich vor diesem Tag und wollte ihn übergehen. Die runde Zahl erschien mir als Symbol für eine alternde Frau, die nicht mehr attraktiv und begehrenswert ist, was ich heute nicht begreifen kann. Auf dem Foto, das Gert, der Mann von Alice, an meinem Geburtstag machte, blickt mir eine schöne junge Frau entgegen. Da Farbfotos noch zu teuer waren, kann man leider das Rot der Haare nicht erkennen, die zu einem etwas wilden Knoten locker aufgesteckt sind. Ein modisches Kleid im New Look - grauer Flanell, ich besitze es noch - mit abnehmbarer Tüllschärpe, lange schwarze Handschuhe und eine Perlenkette lassen mich beinahe mondän erscheinen. Anton hatte mir meinen modischen Wunschtraum erfüllt, nicht ahnend, daß ich eigentlich nur vorhatte, Hugo mit diesem Dernier cri zu imponieren.
Meine treue Schwester Alice hatte mir meine Alterspanik ausgeredet und ein kleines Fest organisiert. Sie war frisch vermählt, auch Monika hatte einen neuen Freund und Fanni den Hund des Pfarrers. Ida ging es damals ganz gut, sie wohnte mit Heidemarie endlich in Frankfurt. Mein kleines Haus hier füllte sich. Hugo sah mich immerzu an. Es schmerzte ihn hoffentlich, wenn er sah, wie Antons behaarte Finger über meinen Kopf strichen. Ich spielte die glückliche Frau und Mutter, hatte meine Kinder feingemacht, Erdbeerbowle zubereitet, Tomaten in Fliegenpilze verzaubert und Käse auf Cocktailstäbchen aufgespießt. Abends tanzten wir zu In the mood. Zum Glück war meine Mutter bei den Enkeln geblieben. Sonst hätte sie gesehen, wie Anton unabsichtlich Fannis Hund trat, der zubiß. Gert legte einen Verband an und fiel beim Aufstehen über Monikas Schuhe. Wir mußten alle herzlich lachen. Wahrscheinlich war Gert bereits betrunken, denn er wurde so wütend, daß er Alice zum Gehen aufforderte. Hugo hielt das für übertrieben
Weitere Kostenlose Bücher