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Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Titel: Kalt ist der Abendhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Bernsteinkette ablegen, denn ich bleibe unweigerlich damit an der Türklinke hängen.
    Sie kommen erst um fünf. Ich bin zermürbt, als es klingelt. Eine häßliche Frau und ein uralter Mann stehen vor mir. Ein erbarmungsloser Händedruck von Heidemarie, eine zittrige Umarmung von Hugo. Ich bitte beide herein, und wir setzen uns an meinen gepflegten Kaffeetisch.
    »Wir sind in einen Stau geraten«, sagt Heidemarie, »und haben uns verspätet.«
    Also hat die feiste Fregatte immer noch ihren Führerschein. »Kaffee oder Tee?« frage ich.
    »Ein Bier«, sagt Hugo, und Heidemarie: »Den Koffer habe ich schon im Hotel abgegeben, die kurze Strecke kann Vater sicher zu Fuß gehen. Wenn er Ärger macht, ruf mich an, hier ist meine Nummer in München. Aber meistens ist er friedlich.«
    Sie zieht Medikamente aus der Handtasche, eine Wochenration. Jeder Tag hat eine eigene Plastikschachtel und ist wiederum in morgens, mittags, nachmittags und abends unterteilt. In jedem Fach lagern unterschiedliche Pillen, rosa und grün, gelb und weiß. »Praktisch, nicht wahr? Ich übergebe sie dir zu treuen Händen.«
    Hugo zwinkert mir heimlich zu. Ich hole Hugos Bier, Heidemaries Kamillentee, meinen Kaffee und esse ein weiteres
    Tortenviertel, während Heidemarie ihrer Galle zuliebe paßt. Allerdings sieht sie nicht nach beständiger Askese aus.
    Erst als die graue Eminenz uns nach sieben verspeisten Pralinen verlassen hat, habe ich die innere Ruhe, um Hugo zu betrachten. Er hat volle weiße Haare, ein paar Alterswarzen, trägt eine Hornbrille und ein Hörgerät. Offensichtlich ist er geschrumpft. Seine Tochter hat ihn in ein scheußliches grobkariertes Holzfällerhemd gesteckt, wozu er aber wie stets eine Fliege trägt. Da ihm an der linken Hand zwei Finger fehlen, behauptet er seit Jahren, keinen Schlips binden zu können. Er sieht mir in die trüben Augen.
    »Mein Gott, Charlotte«, sagt Hugo, »du bist immer noch schön.«
    Ich werde rot. »Du auch«, sage ich schüchtern, und wir lächeln uns an.
    »Deine Tochter ist sehr besorgt um dich«, sage ich mit zurückhaltender Schadenfreude.
    »Sie hat mich zum Baby gemacht«, klagt Hugo, »aber ich wittere Morgenluft. Fast vermute ich, sie hat sich verliebt.«
    Mir bleibt der Mund offenstehen.
    »Zufällig habe ich den Brief einer Klinik gelesen«, sagt Hugo und beobachtet meine Reaktion, »sie will sich in München liften lassen. Ich bitte dich, sie ist Mitte Sechzig - was sollte sonst dahinterstecken? Mir hat sie gesagt, sie will eine Freundin besuchen.«
    Wir müssen beide schmunzeln. »Vielleicht sollten wir uns auch ein bißchen liften lassen«, schlage ich vor.
    Hugo schüttelt den Kopf; sein Blick fällt auf Hulda. »Charlotte«, sagt er, »willst du mich nicht lieber mit dieser bezaubernden Dame verkuppeln?«
    Ich hab's ja immer gewußt, man darf den alten Schwerenöter nicht mit einer jungen Freundin bekannt machen. Vor lauter Aufregung fällt ihm auch noch das Hörgerät herunter.
    »Das ist Hulda«, brülle ich, »sagt dir dieser Name etwas?«
    Hugo überlegt, erinnert sich aber nicht. »So hieß die Puppe von Albert«, erkläre ich, »als wir klein waren, haben wir Vater, Mutter und Kind mit ihr gespielt.«
    Bei dem Stichwort >Albert< fängt Hugo an zu grübeln. »Vielleicht sollte ich dir etwas erzählen, solange es mir noch möglich ist«, sagt er, »andererseits habe ich deinem Vater mein Ehrenwort...«
    Seit Jahren habe ich darauf gewartet. Der Schmerz über Alberts Selbstmord ist zwar längst einer melancholischen Trauer gewichen, aber die Lust auf dramatische Enthüllungen ist geblieben. Schließlich habe ich für Hugo auch noch etwas in petto.
    Mein Schwager weiß, wie neugierig ich bin, und druckst herum, um die Spannung zu steigern. Immerhin hat er rund sechzig Jahre dichtgehalten. Ich mache vorsichtshalber den Likör auf und hole Gläser, die ich leider lange nicht gespült habe. Das große Bekenntnis verzögert sich deshalb um weitere Minuten.
    »Wie du weißt, stiegen dein Vater, Ernst Ludwig und ich zum Dachboden hinauf und trugen die Leiche hinunter. Die beiden wollten sich anschließend die Hände waschen. Ich sollte Albert inzwischen den Flanellunterrock und die anderen Frauensachen ausziehen. Im Mieder, in das er geschnürt war, steckte ein Brief. Ich habe ihn ohne Bedenken sofort gelesen. Dein Vater kam herein, nahm ihn mir weg und las ihn ebenfalls. Dann verbrannte er den Brief im Ofen, ohne ihn Ernst Ludwig zu zeigen. Ich mußte schwören, keiner

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