Kalt, kaltes Herz
– psychisch krank. In diesem Krankenhaus hat sie sich das Leben genommen.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Jetzt zufrieden?« Unter der schweren Last ihres Geständnisses wäre ich fast zusammengebrochen. Ich seufzte. »Muß eine ziemlich schwere Aufgabe gewesen sein«, sagte ich leise, »die Lücke zu füllen, die sie hinterlassen hat. Vor allem als Einzelkind.«
»Wie kommen Sie darauf ...«
»War nur eine Vermutung. Doch ich kann mir vorstellen, wie problematisch es für Sie gewesen ist.«
Sie zuckte die Achseln.
Dann sprudelten die Worte aus mir heraus, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. »Allein konnte er Ihnen nicht genug geben. Ihr Vater, meine ich. Das kann kein Mann, ganz gleich, wieviel Mühe er sich gibt. Und Sie durften es ihn nicht spüren lassen. Darauf wollte ich hinaus, als ich sagte, Sie hätten nie genug bekommen. Das meinte ich emotional. Die Liebe einer Mutter.« Ich sah ihr direkt in die Augen. »Es tut mir leid, daß Sie sich jetzt wegen Ihrer Bedürfnisse schuldig fühlen.«
»Ich fühle mich die ganze Zeit über schuldig. Wegen allem und jedem. Sogar ...«
»Natürlich tun Sie das. Deshalb denken Sie auch, daß Ihnen jeder beim Essen zuschaut. Sie dürfen keinen Appetit haben, geschweige denn richtigen Hunger.«
Sie umklammerte ihre Gemüsetüten. »Davon verstehe ich nichts«, sagte sie. Dann ging sie den Flur entlang und bog um die Ecke.
Ich blickte ihr nach. Ihre Bedürftigkeit, ihr Wunsch, geliebt zu werden, und ihre Angst, es zu zeigen, rührten mich. Ich holte tief Luft und widmete mich wieder LaFountaines Akte.
Den lückenhaften Krankenberichten zufolge zeigte der Patient am
23.
November die ersten Symptome. An diesem Tag suchte er einen Vorgesetzen auf und meldete, Meuchelmörder würden ihn verfolgen, um ihn wegen »feiger Verbrechen gegen die Menschlichkeit« hinzurichten. Er bekam ein Beruhigungsmittel und wurde in der Krankenstube des Stützpunktes beobachtet, weil man eine akute Streßreaktion vermutete. Seine Symptome legten sich, und er versah wieder seinen gewohnten Dienst. Am
25.
November j
edoch nahm Mr. LaFountaine mit Hilfe eines offenbar aus der Krankenstube entwendeten Skalpells eine Krankenschwester als Geisel, die ihn dort gepflegt hatte. Er beharrte darauf, sie sei an der Verschwörung beteiligt, die zum Ziel habe, ihn gefangenzunehmen und hinzurichten. Nachdem er sie vier Stunden lang in einem Lagerschuppen festgehalten hatte, ließ er sie frei. Er hatte ihr tiefe, horizontale Schnittwunden in den Augenwinkeln beigebracht, offenbar weil er den Verdacht hegte, sie sei mit ferngesteuerten Kameras ausgestattet.
Diesen letzten Satz las ich dreimal. Mir drehte sich fast der Magen um. Also hatte er es schon einmal getan. Da stand es schwarz auf weiß: eine Frau, ein Messer, die Suche nach etwas, das sich unter der Haut verbarg. Ich ließ den Kopf sinken. War mir entgangen, daß Westmoreland einem bestimmten Zwang folgte? Hatte er wissen wollen, ob seine Geliebte, die Madonna, unter ihren weichen Brüsten nicht etwa doch ein Roboter war? Bereute er jetzt, weil er nur Fleisch und Blut gefunden hatte? Selbst unter dem Einfluß von Amytal konnte er mir seine Tat vielleicht deshalb nicht gestehen, weil er mich in seiner Angst für einen der Verschwörer hielt, die ihn ermorden wollten. Am liebsten hätte ich nicht mehr weitergelesen, aber es mußte sein:
Mr. LaFountaine wurde festgenommen und inhaftiert. Am
28.
November fand eine Verhandlung vor dem Kriegsgericht statt. Die Anklage gegen ihn wurde fallengelassen, und man kam zu dem Schluß, daß er an einer psychischen Erkrankung litt. Der Patient wurde aus gesundheitlichen Gründen aus der Armee entlassen und an diese Einrichtung überstellt. Eine Untersuchung seines Gesundheitszustandes ergab, daß es sich bei ihm um einen gepflegten, kräftigen weißen Mann handelte, der zu einer raschen, zum Teil unzusammenhängenden Sprechweise neigte. Sein Zustand war labil. Seine Stimmung wurde vom Patienten selbst als »grauenerregend« bezeichnet. Er litt weiterhin an ausgeprägter Paranoia und war davon überzeugt, er werde von anderen verfolgt, die sich an ihm für seine »feigen Verbrechen« rächen wollten. Er stritt akustische, visuelle und olfaktorische Halluzinationen ab (obwohl seine Angaben vermutlich nicht zuverlässig sind). Er kennt seinen Namen und das Datum, hält dieses Krankenhaus allerdings für ein »Experimentierlabor«, wo sein Gehirn mach Radiotransmittern untersucht« werden soll.
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