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Kalt, kaltes Herz

Kalt, kaltes Herz

Titel: Kalt, kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Ablow
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hätte ihr erklären sollen, daß sie einen mutigeren und ehrlicheren Menschen als mich brauchte, wenn sie zu den Höllenfeuern zurückkehren wollte, denen das Kind in ihr zum Opfer gefallen war. Ich hätte ihr gestehen können, daß ich sie wahrscheinlich enttäuschen und einsam irgendwo in der Vergangenheit zurücklassen würde, da ich nicht in der Lage war, sie auf diese Reise zu begleiten. »Ich behandle keine Patienten mehr«, war alles, was ich herausbrachte. Menschen, denen das Leben übel mitgespielt hat, erkennen einander. Ihre Stimme klang mitfühlend, als sie fragte: »Sie behandeln keine Patienten? Warum denn?«
    »Das ist eine lange Geschichte.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Denken Sie lieber über Ihre eigene nach.« Ich legte die Akte auf ein leeres Regal und ging hinaus.

6
    Mittwoch, 16:25
    Es goß in Strömen, und der Himmel hatte sich grau verfärbt. Am
    liebsten wäre ich so schnell wie möglich nach Hause gefahren, um erst einmal in Ruhe nachzudenken.
    Doch statt dessen quälte ich mich von Stau zu Stau. Ich verfluchte meine Scheibenwischer mit dem fast vollständig abgewetzten Gummibelag, beugte mich vor und spähte durch die Windschutzscheibe. Die ganze Welt sah bis zur
    Unkenntlichkeit verzerrt aus. Also kurbelte ich das Fenster auf der Beifahrerseite herunter, ordnete mich vorsichtig rechts ein und bog in die Longwood Avenue ab.
    In der Longwood Avenue unterhält Harvard vier Unikliniken, die sich im Lauf der Zeit immer mehr ineinander verschachtelt haben. Ich mußte wieder das Fenster herunterkurbeln, um zwei Baukränen vor dem Dana-Farber-Krebsforschungsinstitut auszuweichen. Als ich in meinem vorletzten Studienjahr an der University of Massachusetts hier als Assistent von Dr. Hyman Weitzman gearbeitet hatte, war der Laden nur ein Drittel so groß gewesen. Damals hatte
    ich im Hauptfach Neurologie belegt, und Weitzman, ein Onkologe, forschte gemeinsam mit einigen Neurochirurgen an der Frage, ob das Wachstum von Gliomen im Gehirn durch das Einsetzen radioaktiver Scheiben aufzuhalten sei.
    Schon damals kam ich mir wie ein Außenseiter vor. Die anderen Studenten in diesem Projekt waren von den wuchernden Formen bösartiger Zellen unter dem Elektronenmikroskop fasziniert. Begeistert befaßten sie sich mit der Technik der
    Implantation der Scheiben ins Gehirn und beobachteten, wie sich die Reflexe und die Sehfähigkeit der Patienten bei Einsetzen und Abklingen der Krebserkrankung veränderten. All das interessierte mich nicht weiter. Ich blieb bis spät abends im Institut und befragte die Patienten, wie es sich anfühlte, einen tödlichen Eindringling im eigenen Körper zu beherbergen.
    Ich wollte wissen, was die Erkrankung ihrer Vorstellung nach ausgelöst hatte und wovon sie sich Heilung versprachen.
    Am Ende des Sommers rief mich Weitzman – ein bebrillter, arbeitswütiger Mann, der Auschwitz überlebt hatte – in sein Büro. Er übergab mir ein Empfehlungsschreiben, in dem besonders meine statistische Analyse unserer
    Forschungsdaten lobend
erwähnt
wurde. »Sie haben äußerst umfassend und gründlich gearbeitet«, sagte er. »Und ich bin Ihnen für Ihre Bemühungen sehr dankbar.« Er blickte aus dem Fenster seines spartanisch eingerichteten Büros. »Aber über eines mache ich mir Sorgen.«
    Ich betete Weitzman an, wie ich jeden älteren Mann anbetete, solange er mir nur einen Hauch der Zuneigung entgegenbrachte, die ich bei meinem Vater vermißt hatte. Ich überlegte fieberhaft, ob er wohl von meinem Techtelmechtel mit seiner Assistentin Lisa wußte. In jeder Mittagspause waren wir zusammen ins Bett gegangen, denn sie wohnte gleich gegenüber. »Sorgen?« fragte ich.
    »Es ist eher ein guter ...«
    Ich fuhr zusammen.
    »... Rat.«
    »O ja, bitte.«
    Er beugte sich vor. »Ich arbeite nun schon seit vielen Jahren in der Forschung, Frank, und ich habe bedeutende Wissenschaftler kennengelernt: Mountcastle, Snyder, DePaulo, Coyle. Diese Männer haben sich der Biochemie, Anatomie und Physiologie verschrieben. Struktur und Funktion. Ursache und Wirkung.« Die Art, wie sich seine Stimme hob und senkte, erinnerte mich an deutsche Musik. »Der menschliche Körper ist für sie ein Quell ewiger Faszination. In einer einzigen Zelle sehen sie das gesamte Universum.« Er hob die Hände wie ein Dirigent. »Ein solcher Wissenschaftler spürt den eigenen Puls in der Kontraktion einer einzigen Muskelfaser im Herzen eines anderen Menschen.«
    Seine Begeisterung wirkte ansteckend. »Ja!« sagte

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