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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Irre verschwunden.
    Shep, der immer noch am Tisch saß, winkte nicht mehr, sondern arbeitete jetzt mit beiden Händen an seinem Puzzle. Wie ein Blinder, der ein Buch in Brailleschrift vor sich hatte, schien er jedes Stück Pappe mit seinen empfindlichen Fingerspitzen lesen zu können. Er schaute sich die Teile nie länger als ein, zwei Sekunden an, verzichtete gelegentlich sogar auf den Gebrauch der Augen, und fügte die Bildfragmente mit unheimlicher Geschwindigkeit in das nach innen wachsende Mosaik ein oder legte sie beiseite, weil sie noch nicht zu gebrauchen waren.
    In der törichten Hoffnung, durch irgendeine wundersame geistige Verbindung zwischen Brüdern ein Gefühl für seine verzweifelte Lage übermitteln zu können, versuchte Dylan, Sheps Namen zu rufen. Der durchnässte Knebel filterte den Schrei, saugte das meiste davon auf und ließ nur ein ersticktes Blöken durch, das sich keineswegs wie der Name seines Bruders anhörte. Dennoch versuchte er es noch ein zweites, drittes, viertes, fünftes Mal. Vielleicht ließ die bloße Wiederholung Shep doch noch aufhorchen.
    War Shep in kommunikativer Stimmung – was weniger oft vorkam als der Sonnenaufgang, jedoch nicht so selten wie der periodische Besuch des Halleyschen Kometen –, dann war er so eloquent, dass man sich fühlte, als würde man mit Worten überschwemmt. Man war erschöpft, wenn man ihm nur zuhörte. Im Allgemeinen verging jedoch der größte Teil des Tages, ohne dass Shep seinen Bruder überhaupt wahrzunehmen schien. Wie heute. Wie hier und jetzt. In seiner Puzzleleidenschaft hatte Shep das Motelzimmer vergessen und hielt sich stattdessen im Schatten des Schintoschreins auf, der auf dem Tisch vor ihm Gestalt annahm. Inmitten der Kirschbäume, die unter dem kornblumenblauen japanischen Himmel blühten, war er viel zu weit weg, um seinen drei Meter neben ihm sit zenden Bruder zu hören oder dessen rotes, enttäuschtes Gesicht wahrzunehmen, seine verkrampften Halsmuskeln, seine pochenden Schläfen und seinen flehenden Blick.
    Sie waren gemeinsam in einem Zimmer und doch jeder für sich allein.
    Das Taschenmesser, das in der Armlehne steckte und wartete, stellte eine ebenso große Herausforderung dar wie das magische Schwert Excalibur in seiner steinernen Scheide. Leider konnte man nicht darauf hoffen, dass König Artus wieder zum Leben erweckt und nach Arizona entsandt wurde, um Dylan bei der Extraktion zu helfen.
    Unbekanntes Zeug zirkulierte durch Dylans Körper, jeden Augenblick konnte sein IQ um sechzig Punkte abfallen, und außerdem nahten gesichtslose Killer.
    Sein Reisewecker war ein digitales Modell und daher eigentlich lautlos, aber trotzdem konnte er ihn irgendwie ticken hören. Dem Klang nach zu urteilen, war es eine verräterische Uhr, weil sie die wertvollen Sekunden im Eiltempo abzählte.
    Mit gesteigerter Geschwindigkeit puzzelte Shep beidhändig weiter. Inzwischen waren ständig zwei Puzzleteile im Spiel. Sheps Hände stießen über- und untereinander herab, flatterten über dem Haufen loser Teile in der Schachtel, flogen flink wie Schwalben zum blauen Himmel, zu den Kirschbäumen oder den unvollendeten Ecken des Tempeldachs und wieder in die Schachtel zurück, als bauten sie fieberhaft ein Nest.
    » Dudel-didel-dudel «, sagte Shep.
    Dylan stöhnte.
    » Dudel-didel-dudel. «
    Erfahrungsgemäß würde Shep dieses Stück Nonsens mehrere hunderte oder gar tausende Male wiederholen, mindestens während der nächsten halben Stunde, vielleicht aber auch, bis er näher an der Morgendämmerung als an Mitternacht einschlief.
    » Dudel-didel-dudel. «
    In weniger bewegten Zeiten – die glücklicherweise fast sein gesamtes bisheriges Leben geherrscht hatten, bis er auf den Irren mit der Spritze getroffen war – hatte Dylan solche Anfälle gelegentlich überstanden, indem er auf die Abfolge sinnloser Silben, von denen sein Bruder wie besessen war, Reime geschmiedet hatte.
    » Dudel-didel-dudel. «
    Ich hätte gern ’ ne Nudel, dachte Dylan.
    » Dudel-didel-dudel. «
    Und nicht bloß eine einz ’ ge Nudel …
    » Dudel-didel-dudel. «
    Sondern gleich das ganze Rudel.
    An einen Stuhl gefesselt, abgefüllt mit Zeug, von Mördern gejagt – das war nicht gerade der rechte Zeitpunkt zum Reimen. Es ging jetzt darum, klar zu denken. Es ging um einen raffinierten Plan und wirksames Handeln. Der Zeitpunkt war gekommen, auf irgendeine Weise an das Taschenmesser zu kommen und erstaunliche, hochintelligente Dinge damit zu veranstalten, die jedermann

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