Kalte Freundschaft
auf und späht durch die offene Tür in den Flur. Aus den angrenzenden Zimmern sind Stimmen zu hören, aber zu sehen ist niemand.
Nadine holt tief Luft, dann beginnt sie zu laufen.
Der Flur führt zum Eingangsbereich, wo mehrere Leute warten.
Niemand nimmt von ihr Notiz, sie kann das Polizeirevier ungehindert verlassen.
43
Nadine eilt die Langegracht entlang, besteigt ihr Auto und fährt los, ohne den Sicherheitsgurt anzulegen. Automatisch schlägt sie den Weg nach Hause ein, doch dann wird ihr klar, dass die Polizei dort als Erstes nach ihr suchen wird.
Sie bremst vor einer roten Ampel und versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Dass sie einfach davongelaufen ist, macht natürlich einen denkbar schlechten Eindruck. Und es bringt ihr auch nicht viel, denn Marielle kommt dadurch nicht schneller nach Hause.
Plötzlich durchzuckt sie der Gedanke, dass Marielle in der Zwischenzeit wieder aufgetaucht sein könnte und zu Hause ist. Dass sie ihre notorisch besorgte Mutter nicht angerufen hat, ist durchaus vorstellbar …
Die Ampel wird grün. Nadine entschließt sich, nun doch nach Hause zu fahren. Falls Marielle nicht da ist, will sie sämtliche Krankenhäuser in der Umgebung abtelefonieren.
Beim Losfahren vorhin ist automatisch das Radio angegangen, doch erst als die Nachrichten anfangen, hört Nadine genau hin.
»Auf dem Bücherball, der gestern Abend in der Amsterdamer Stadsschouwburg stattfand, wurde kurz nach Mitternacht ein siebenunddreißigjähriger Mann erstochen. Es handelt sich um den Verleger Eelco van Ravensberg, der heute Morgen seinen Verletzungen erlag. Die Polizei hat eine groß angelegte Untersuchung eingeleitet.«
Nadines Hände krampfen sich ums Lenkrad. Die sachliche, neutrale Stimme des Nachrichtensprechers macht ihr bewusst, dass es wirklich wahr ist: Eelco ist ermordet worden. Sie wird ihn nie mehr wiedersehen.
Mit einem Mal wird der bisher unterdrückte Kummer übermächtig, und sie beginnt zu weinen.
Als sie sich ihrem Wohnviertel nähert, wischt sie die Tränen weg, konzentriert sich ganz auf das, was ihr bevorsteht.
Sie drosselt das Tempo.
Auf der Straße vor ihrem Haus ist kein Polizeiauto zu sehen, aber sie können ebenso gut eine Zivilstreife geschickt haben.
Sicherheitshalber parkt Nadine in der nächsten Querstraße und nimmt von dort den Fußweg zum Garten.
Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und späht vorsichtig über den Zaun. Nichts. Weder Marielles Rad noch irgendwelche Polizisten. Falls sie doch vor ihrem Haus Posten bezogen haben, dann äußerst unauffällig.
Nadine öffnet das Gartentor, geht zur Hintertür und schließt auf.
Angespannt bleibt sie auf der Schwelle stehen und lauscht. Es ist vollkommen still im Haus.
Die Küche sieht genauso aus, wie sie sie verlassen hat. Wenn Marielle nach Hause kommt, nimmt sie sich immer gleich etwas zu essen oder zu trinken und hinterlässt Unordnung: ein benutztes Glas, aufgerissene Verpackungen, Kekskrümel, Bonbonpapierchen. Sosehr das Nadine normalerweise ärgert - jetzt wünscht sie sich nichts mehr, als das gewohnte Durcheinander vorzufinden.
»Marielle?«
Keine Antwort.
Nadine wirft einen Blick in die Diele. Marielles Jacke hängt nicht an der Garderobe, keine hastig ausgezogenen Stiefel liegen auf dem Boden herum.
Sie geht ins Wohnzimmer, der Anrufbeantworter blinkt nicht.
Als sie auch im oberen Stock vergeblich nachgesehen hat, tritt sie niedergeschlagen ans Fenster. Sie schaut ins Freie. Die wenigen geparkten Autos am Straßenrand gehören Leuten, die sie kennt: der rote Ford den Nachbarn gegenüber, die rostige Schüssel dem alten Ehepaar drei Häuser weiter, der große Kombi der Familie mit den vier Kindern.
Plötzlich sieht sie einen weißen Peugeot mit Arnout am Steuer. Er muss erst vor ein paar Minuten gekommen sein, sonst wäre ihr das Auto vorhin aufgefallen. Die Polizei hat ihn also gehen lassen. Aber was will er hier?
Er steigt aus, schlägt die Tür zu und überquert mit seiner unvermeidlichen Kameratasche die Straße.
Sie überlegt noch, ob sie ihm öffnen soll, wenn er klingelt, da sieht er sie auch schon und winkt.
Bevor Nadine reagieren kann, biegt ein weiteres Auto in die Straße ein und hält vor ihrem Haus. Immink sitzt auf dem Beifahrersitz, neben ihm ein jüngerer Kollege.
Erschrocken weicht Nadine zurück. Sie hastet die Treppe hinab, schnappt ihre Tasche und läuft durch die Hintertür in den Garten.
Zum Glück hat sie ihr Auto eine Straße weiter abgestellt. Kaum ist es in Sichtweite,
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