Kalte Freundschaft
auf ihrem Mund und eine Hand auf der Hüfte.
Das Messer streift wie zufällig ihren Schenkel.
Nadine kämpft gegen den Ekel an, als Sigrid ihr die Zunge in den Mund schiebt.
Unbeholfen tastet sie hinter ihrem Rücken nach dem Schlüssel.
Plötzlich lässt Sigrid sie los. Ihre Augen glänzen, die Wangen sind hochrot.
»Du liebst mich, Nadine!«, sagt sie. »Ich habe es immer gewusst! Jetzt kann uns nichts mehr trennen. Kein Eelco und auch kein Christiaan.«
»Christiaan?«
Sigrid streicht sich eine Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht. »Er hat es mir leicht gemacht. Hätte er sein Auto rechtzeitig zur Inspektion gebracht, wäre es schwieriger gewesen.«
Nadine fühlt sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Sie sucht Halt an der Tür. Währenddessen redet Sigrid weiter, aber ihre Stimme
klingt verzerrt, erst nah, dann wie aus weiter Ferne. »Wir werden zusammen fortgehen, Nadine. Ich weiß, du willst sagen, das klappt nie. Aber es gibt eine Möglichkeit.« Ihr Blick wird starr, das Gesicht maskenhaft.
Vor Nadine steht eine vollkommen Fremde, die zu allem entschlossen ist und die nichts mehr mit der Sigrid, die sie kennt, gemeinsam hat. Wie konnte sie nur all die Jahre so erfolgreich verbergen, dass sie auch auf Frauen steht? Dass sie sie - Nadine - liebt, sogar regelrecht von ihr besessen ist?
»Die Polizei kann jeden Moment hier sein«, sagt Nadine mit schwacher Stimme. »Ich habe angerufen, wegen der Schuhe. Sie wissen alles. Lauf davon, schnell! Ich halte dich nicht zurück.«
»Du kommst mit.«
»Ja«, beeilt sich Nadine zu sagen. »Ich komme mit, wir fliehen zusammen.« Wenn wir erst einmal im Freien sind, kann ich bestimmt davonlaufen, denkt sie und wendet sich zur Tür.
»Nein.« Sigrid schüttelt entschieden den Kopf. »Das hat keinen Sinn, so haben sie uns im Nu. Es gibt nur einen Weg, wie wir zusammenbleiben können.«
»Wie meinst du …?« Im nächsten Moment hat sie das Messer an der Kehle. Die scharfe Klinge ritzt die Haut, und Nadine spürt, wie ihr Blut am Hals hinabrinnt.
In ihrer Todesangst versetzt sie Sigrid einen Kniestoß. Bei Männern ein probates Mittel, aber offenbar funktioniert es auch bei Frauen, denn Sigrid schreit auf und krümmt sich zusammen.
Nadine presst die Hand an den Hals. Es kann nur eine oberflächliche Wunde sein, denn sie hat kaum Schmerzen.
Wie durch einen Nebel nimmt sie wahr, dass Sigrid sich aufrichtet und erneut das Messer hebt.
»Bitte nicht!«, schreit sie gellend.
Sigrids Gesicht ist tränenüberströmt. »Es muss sein, Nadine. Ich liebe dich. Und wir sehen uns wieder, das verspreche ich dir.« Dann sticht sie zu.
Manchmal, wenn ich in meiner Zelle auf dem Bett liege und ein Buch lese oder in einer Zeitschrift blättere, gelingt es mir, zu vergessen, wo ich bin. Die dicke Stahltür nimmt mir nicht nur die Freiheit, sondern hält auch den Lärm ab, das Geschrei streitender Frauen, die lauten Stimmen der Wärter.
Bei der Therapie sagen sie, ich solle nicht ständig von »Wärtern« und »Zellen« sprechen, sondern von »Zimmern« und »Helfern«, die auf mich »aufpassen«, denn alle hier meinten es gut mit mir.
Seltsam, wenn man bedenkt, wofür ich verurteilt worden bin. Die Medien haben mich als Monster dargestellt, aber hier in der Gefängnispsychiatrie bringt man mir Verständnis entgegen. Manchmal habe ich fast den Eindruck, sie verstünden mich wirklich. Mein Psychiater Dr. Posthumus gibt sich freundschaftlich und betont immer wieder, ich könnte ihm alles sagen, was mich bewegt. Als wüsste ich nicht, dass ich
für ihn nur eine Patientin von vielen bin, dass meine Geschichte ihn letztlich überhaupt nicht interessiert, sondern nur die Akte vervollständigen soll.
Langsam legt sich der Wirbel um meine Person. Zu Anfang wurde ich ständig in den Nachrichten erwähnt, doch allmählich vergisst man mich. Die Zeitungen aus den ersten Wochen hebe ich in einem Karton unter meinem Bett auf. Wenn mir danach ist - also jeden Tag -, hole ich sie hervor, blättere darin und betrachte die Fotos. Es sind Bilder von mir, andere zeigen Nadine, wie sie vor dem Gerichtsgebäude von Reportern belagert wird. Auf wieder anderen sind wir beide zu sehen. Keine Ahnung, wie die Zeitungen darangekommen sind. Wahrscheinlich haben gemeinsame Bekannte sie für viel Geld verkauft. So läuft das nun mal …
Immerhin ist der ganze Rummel Nadines Schriftstellerkarriere zugutegekommen. Eine Thrillerautorin, die fast selbst zum Mordopfer wird, ja
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