Kalte Freundschaft
überfahren, aber das würde Spuren an meinem Auto hinterlassen. Die Stoßstange hatte ohnehin schon Kratzer und wies rote Lackpartikel von ihrem Rad auf, die sich aber leicht entfernen ließen.
Ich legte ihr die Hände um den Hals und drückte zu. Immer fester.
Plötzlich hörte ich das Brummen eines Motors. Es wurde lauter. Sobald der Fahrer um die Kurve kam, würde er mein Auto sehen und könnte sich das Kennzeichen notieren. Ich musste also schleunigst verschwinden.
Widerstrebend ließ ich Marielle los und rannte zum Wagen. Als das Auto im Rückspiegel erschien, fuhr ich los und hoffte inständig, dass Marielle tot war.
Das Ganze hat mir wirklich keinen Spaß gemacht, aber es ließ sich nun mal nicht vermeiden. Beim Gedanken an Nadines Kummer schnürt es mir die Kehle zu. Aber der Verlust wird uns zusammenschweißen, davon bin ich überzeugt.
44
Ein Krankenhaus ist eine Art Paralleluniversum, eine stille Welt, in der bunte Farben verboten sind, in der lange weiße Flure die Straßen ersetzen und nur die Kioske und Cafeterias einigermaßen belebt wirken.
Kaum hat Nadine die Drehtür passiert, verursacht ihr der Anblick der Rollstuhlfahrer und Patienten mit Infusionsständern Beklemmungen.
Sie geht rasch zur Anmeldung und fragt nach dem jungen Mädchen, das am Abend zuvor eingeliefert wurde.
Als sie Auskunft bekommen hat, eilt sie zum Lift und drückt in ihrer Ungeduld mehrmals auf den Knopf.
Der Lift kommt, und die Tür gleitet auf. Sofort geht sie hinein und drückt die Taste für die vierte Etage. Sie wird immer nervöser, als der Lift in jedem Stock anhält und Leute aus- und einsteigen.
Endlich ist sie am Ziel und geht den mit grauem Linoleum ausgelegten Flur entlang.
Die Tür zur Intensivstation ist verschlossen. Sie muss sich erst über die Sprechanlage anmelden.
»Ich bin Nadine van Mourik. Das Mädchen, das gestern Abend bei Ihnen eingeliefert wurde, ist sehr wahrscheinlich meine Tochter Marielle.«
Eine Krankenschwester öffnet und stellt sich vor: »Lydia Wesselink. Sie meinen also, dass Ihre Tochter bei uns liegt. Wie sieht sie denn aus?«
Nachdem Nadine Marielle ausführlich beschrieben hat, fordert die Schwester sie auf mitzukommen.
»Bisher hatten wir keine Ahnung, wer sie ist«, sagt sie. »Sie hatte weder ein Handy noch eine Tasche bei sich - nichts, was auf ihre Identität schließen ließe.«
»Das Handy lag zu Hause, auf ihrem Schreibtisch. Und leider vergisst Marielle immer, ihren Ausweis einzustecken.«
Schwester Lydia sieht sie mitfühlend an. »Sie haben sich vermutlich große Sorgen gemacht?«
Nadine nickt und verkneift sich die Bemerkung, das sei wohl stark untertrieben.
Sie folgt der Schwester in einen Raum voller Betten und Apparate. Marielle ist nirgends zu sehen.
Da nimmt Schwester Lydia sie am Arm und führt sie zu einem Bett in der Ecke.
Nadine war auf das Schlimmste gefasst, dennoch ist es ein Schock: Da liegt sie, ihre hübsche Tochter. Leichenblass, das Gesicht voller Schürfwunden und Blutergüsse. Am Beatmungsgerät!
Nadine nimmt überhaupt nicht wahr, dass die Schwester fragt, ob es tatsächlich ihre Tochter sei. Sie muss sich am Fußende des Betts festhalten, um nicht umzukippen.
»Ist Ihnen nicht gut?«
Nein, ganz und gar nicht! Das Piepen und Surren der Apparate schwillt in ihrem Kopf zu einem ohrenbetäubenden Lärm an, verhindert jeden klaren Gedanken.
Nadine tritt neben das Bett, steckt die Hand aus und berührt sanft Marielles Arm.
»Wie … was …« Sie bricht ab, findet keine Worte für die vielen Fragen, die sich ihr aufdrängen.
Erst nach ein paar Minuten registriert sie, dass die Schwester gegangen ist. Statt ihrer steht nun ein Mann im weißen Kittel neben ihr. Er stellt sich als Dr. Broekmans vor und sagt, er sei der behandelnde Arzt.
»Ihre Tochter ist angefahren worden«, sagt er. »Ein nachfolgendes Auto konnte gerade noch bremsen, und der Fahrer hat den Krankenwagen gerufen. Sie wurde in kritischem Zustand eingeliefert, ist aber inzwischen stabil. Herzfrequenz und Atmung sind noch stark verlangsamt, daher das Beatmungsgerät. Sie müssen sich aber keine Sorgen machen. Das Mädchen atmet teilweise selbst, und das ist ein gutes Zeichen. Die Wunden an Gesicht und Kopf sehen zwar schlimm aus, sind aber bald wieder verheilt.«
Nadine sieht ihn hoffnungsvoll an. »Marielle wird also wieder ganz gesund?«
»Die bisherigen Untersuchungsergebnisse sind zufriedenstellend. Sie ist nur noch nicht bei Bewusstsein.«
»Ist das
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