Kalte Freundschaft
spuckt blutigen Schleim.
Schnell greift Nadine nach der Schale auf dem Nachttisch und hält sie ihr hin.
»Das kommt von dem Schlauch. Tut dir der Hals sehr weh?«
Marielle nickt. Ihr Blick irrt unruhig hin und her, und sie hält Nadines Hand so fest umklammert, als hinge sie über einem Abgrund.
»Ich bin so froh, dass du lebst!«, sagt Nadine leise. »Unendlich froh!«
Mit einem munteren »Hallo« betritt Dr. Broekmans das Zimmer. »Unser Dornröschen ist aufgewacht, sehr gut!«, meint er augenzwinkernd.
»Wie geht es ihr?«, fragt Nadine, noch nicht imstande, den gleichen lockeren Ton anzuschlagen.
Der Arzt nimmt Marielles Krankenblatt zur Hand. Die Sorgenfalten auf seiner Stirn verraten, dass noch längst nicht alles zum Besten steht.
»Stimmt etwas nicht? Sie wird doch hoffentlich keine bleibenden Schäden davontragen, oder?«, Nadine sieht ihn ängstlich an.
»Ich denke nicht«, sagt er. »Der Schlauch hat eine Reizung der Kehle verursacht, aber das ist in ein paar Tagen wieder vorbei. Was ich mir allerdings nicht erklären kann, sind die blauen Flecken an ihrem Hals. Man könnte sie glatt für Würgemale halten.«
Entsetzt starrt Nadine auf die dunklen Flecken um den Kehlkopf herum. Dann war es also wirklich kein Unfall …?
»Marielle hat schwere Prellungen, Schürfwunden und eine Gehirnerschütterung«, fährt der Arzt fort. »Ansonsten liegt eigentlich kein Grund zur Beunruhigung vor.«
»Ein Glück …« Nadine schließt kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnet, sieht sie Marielle an und sagt wie zu einem kleinen Kind: »Hast du gehört, Liebes? Alles wird wieder gut!«
Marielle will anscheinend etwas sagen, als ein neuer Hustenkrampf sie schüttelt. Nadine kann ihr gerade noch rechtzeitig die Schale geben.
Liebevoll legt sie den Arm um ihre Tochter und zieht sie an sich. Nur mit Mühe kann sie die Tränen zurückhalten.
»Tut … weh.« Marielles Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
»Nicht sprechen, Liebes«, sagt Nadine rasch.
Dr. Broekmans nickt. »Deine Mutter hat recht, Marielle. Du musst jetzt deinen Hals schonen.«
Erschöpft sinkt das Mädchen aufs Kissen zurück, als der Arzt sich verabschiedet hat.
»Was ist nur passiert?«, fragt Nadine. »Du wolltest
doch zu Renate. Ich dachte die ganze Zeit, du bist bei ihr. Weißt du was, Marielle? Ich stelle dir Fragen, und du brauchst nur zu nicken oder den Kopf zu schütteln, ja? Also: Bist du auf dem Weg zu Renate von einem Auto angefahren worden?«
Marielle zögert und sieht Nadine mit großen Augen an.
»Nein? Aber du bist doch angefahren worden, oder?«
Marielle beschreibt Kreise mit dem Zeigefinger.
Nadine glaubt zu verstehen, was sie meint: »Du warst mit dem Rad unterwegs, stimmt’s?«
Sie nickt, nimmt dann die andere Hand zu Hilfe und bewegt sie auf den kreisenden Zeigefinger zu.
»Jemand hat dich verfolgt, willst du das sagen?«, fragt Nadine angespannt. »Dann war es doch kein Unfall!«
In Marielles Augen glänzen Tränen. »Angst …«, bringt sie mühsam hervor.
Nadine nimmt ihre Hände und beugt sich vor: »Wer war es? Hast du den Fahrer sehen können?«
Es muss jemand gewesen sein, den sie kennt. Sie hat auf einmal eine Ahnung, trotzdem trifft es sie wie ein Keulenschlag, als Marielle ihr den Namen zuflüstert. Ihr Herz krampft sich vor Schreck und Angst zusammen.
46
Das Haus liegt an der Rijnsburgersingel unweit der Leidener Innenstadt. Nadine fand die Lage mit Blick aufs Wasser und die Museumsmühle De Valk immer ausgesprochen schön.
Heute kann sie der Umgebung jedoch nichts abgewinnen. Minutenlang bleibt sie im Auto sitzen, den Blick auf das Haus gerichtet, in dem sie vor noch nicht allzu langer Zeit gewesen ist. Die Einfahrt ist leer, also ist niemand da.
Schwer kann es nicht sein, sich Zutritt zu verschaffen. Trotzdem zögert Nadine, denn ihr Vorhaben ist nicht ungefährlich.
Was hofft sie zu finden? Am liebsten gar nichts, denn ohne Beweise ist die Theorie, die sich in ihrem Hinterkopf eingenistet hat, vielleicht doch nur ein reines Hirngespinst oder eine Verkettung unglücklicher Umstände. Es kommt ja immer wieder vor, dass jemand einen Unfall verursacht und einfach weiterfährt. Dass Fahrer und Opfer sich kennen, ist weniger wahrscheinlich, aber auch nicht ganz ausgeschlossen.
Dennoch nagt der Zweifel. Sie kann sich einfach nicht vorstellen, dass man einen bewusstlosen Radfahrer
einfach so liegen lässt - und schon gar nicht, wenn man ihn kennt. Dass man Gas gibt und davonfährt. Und wie
Weitere Kostenlose Bücher