Kalte Herzen
Terrio wirkte verloren inmitten all der Apparaturen. Das Beamtungsgerät, die Infusionspumpen, die Saugschläuche und Monitore für EKG, Blut- und Hirndruck, ein Gerät zum Messen jeder Körperfunktion. Warum sollte man sich im neuen Zeitalter der Technologie noch die Mühe machen, den Puls zu fühlen oder die Hände auf eine Brust zu legen? Wozu brauchte man Ärzte, wenn Maschinen die Arbeit erledigen konnten?
»Ich habe sie gestern nacht aufgenommen«, erläuterte Abby.
»Vierunddreißig Jahre alt, verheiratet, zwei Töchter. Es sind Zwillinge. Sie waren eben noch hier. Und das Merkwürdige war: Sie wollten sie nicht anfassen, Mark. Sie standen bloß da und haben geguckt, haben sie nur angeguckt. Aber sie haben sie nicht berührt. Ich habe die ganze Zeit gedacht: Ihr müßt! Ihr müßt sie jetzt berühren, weil es eure letzte Chance sein könnte.
Die letzte Gelegenheit, die ihr habt. Aber sie wollten nicht. Und ich glaube, eines Tages werden sie sich wünschen …« Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich rasch mit der Hand über die Augen. »Ich habe gehört, der andere Typ war ein betrunkener Geisterfahrer. Weißt du, was mich anwidert, Mark? Und ich meine, wirklich anwidert? Er wird überleben. In diesem Moment sitzt er oben in der Orthopädie und jammert über ein paar Knochenbrüche.« Abby holte erneut tief Luft, und mit dem anschließenden Seufzer schien all ihre Wut verflogen. »Ich soll eigentlich Leben retten. Statt dessen wünsche ich mir, daß sie einen Typ von der Autobahn kratzen.« Sie wandte sich von dem Bett ab. »Zeit, nach Hause zu gehen.«
Mark strich ihr mit der Hand über den Rücken. Es war eine gleichermaßen tröstende und besitzergreifende Geste.
»Komm«, sagte er. »Ich bringe dich zum Wagen.«
Sie verließen die Station und nahmen den Aufzug. Als die Türen zuglitten, spürte Abby, wie ihre Knie nachgaben, und sie schmiegte sich an Mark. Sofort nahm er sie in die warme Geborgenheit seiner Arme. Dies war ein Ort, an dem sie sich sicher fühlte und schon immer sicher gefühlt hatte.
Noch vor einem Jahr war ihr die Gegenwart von Mark Hodell alles andere als beruhigend erschienen. Abby war Ärztin im Praktikum gewesen, Mark der diensthabende Thoraxchirurg.
Er war nicht irgendein Bereitschaftsarzt, sondern der Topchirurg des Herztransplantationsteams im Bayside-Hospital.
Sie hatten sich im OP der Unfallchirurgie kennengelernt. Der damalige Patient, ein zehnjähriger Junge, war in einem Krankenwagen eingeliefert worden. Er hatte einen Pfeil in der Brust – das Resultat eines Geschwisterstreits, kombiniert mit einem denkbar schlecht gewählten Geburtstagsgeschenk. Mark hatte sich schon die Hände desinfiziert und seinen OP-Anzug übergestreift, als Abby den Saal betrat. Es war ihre erste Woche als Assistenzärztin, und sie war nervös gewesen, eingeschüchtert von der Vorstellung, dem berühmten Dr. Hodell zu assistieren.
Sie trat an den Operationstisch und warf einen schüchternen Blick zu dem Mann, der ihr gegenüberstand. Was sie trotz seiner Maske sah, war eine breite, intelligente Stirn und ein Paar wunderschöner blauer Augen. Sehr direkt und sehr neugierig.
Sie operierten gemeinsam. Das Kind überlebte.
Einen Monat später fragte Mark Abby, ob sie mit ihm ausgehen wollte. Sie lehnte zweimal ab. Nicht, weil sie nicht mit ihm ausgehen wollte, sondern weil sie dachte, daß sie es nicht tun sollte.
Ein Monat verstrich, und er fragte sie erneut. Diesmal war die Versuchung stärker. Sie nahm an.
Vor fünfeinhalb Monaten war Abby in Marks Haus in Cambridge eingezogen. Zunächst war es nicht leicht gewesen, das Zusammenleben mit einem einundvierzigjährigen Junggesellen zu üben, der sein Leben – und auch sein Haus – noch nie mit einer Frau geteilt hatte. Doch als Mark sie jetzt in seinen Armen hielt und stützte, konnte sie sich nicht vorstellen, mit einem anderen Menschen zu leben oder einen anderen Mann zu lieben.
»Meine arme Abby«, murmelte er. Sein warmer Atem blies in ihr Haar. »Brutal, nicht?«
»Ich bin für so was nicht gemacht. Was mache ich hier eigentlich?«
»Du machst das, wovon du immer geträumt hast. Das hast du mir jedenfalls erzählt.«
»Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, was mein Traum überhaupt war. Ich bin dabei, ihn aus den Augen zu verlieren.«
»Ich glaube, es hatte etwas damit zu tun, Leben zu retten.«
»Stimmt. Und jetzt stehe ich hier und wünsche mir, der Betrunkene in dem anderen Auto wäre tot.«
»Abby, im Moment machst du die
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