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Kalte Herzen

Kalte Herzen

Titel: Kalte Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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des Ladens stolperte er – verdammt hohe Schwelle, dafür könnte man den Besitzer verklagen –, fing sich jedoch gleich wieder. Er nahm drei Sixpacks aus der Kühltheke und taumelte zur Kasse, wo er einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tresen legte.
    Der Kassierer betrachtete das Geld und schüttelte den Kopf.
    »Ich kann es nicht annehmen«, sagte er.
    »Was soll das heißen, Sie können es nicht annehmen?«
    »Ich darf an einen alkoholisierten Kunden kein Bier verkaufen.«
    »Wollen Sie etwa behaupten, ich wäre betrunken?«
    »So ist es.«
    »Hören Sie, das ist Geld, oder nicht? Wollen Sie mein Geld nicht?«
    »Ich will bloß nicht verklagt werden. Also stell das Bier wieder weg, Junge. Oder noch besser, warum kaufst du dir nicht einen Kaffee oder so? Ein Hot dog?«
    »Ich will kein Hot dog.«
    »Dann schieb einfach ab, Junge. Los.«
    Vince schob ein Sixpack über den Tresen. Es rutschte über die Kante und fiel krachend zu Boden. Er wollte gerade das zweite vom Tresen wischen, als der Kassierer eine Waffe zog. Vince erstarrte.
    »Los, verpiß dich«, befahl der Kassierer.
    »Ist ja gut!« Vince machte einen Schritt zurück und hob kapitulierend die Hände. »Ist ja gut, ich habe ja verstanden.«
    Beim Rausgehen stolperte er wieder über die verdammte Schwelle.
    »Und wo ist das Bier?« fragte Chuck.
    »Sie haben keins mehr.«
    »Das kann nicht sein.«
    »Das Bier ist
aus
verkauft, klar?« Vince ließ den Motor an und trat auf das Gaspedal. Quietschend schoß der Wagen vom Parkplatz.
    »Wohin fahren wir jetzt?« fragte Chuck.
    »Einen anderen Laden suchen.« Vince blinzelte in die Dunkelheit. »Wo ist die Auffahrt? Die muß doch hier irgendwo sein.«
    »Gib es auf Mann. Du schaffst nie im Leben noch ’ne Runde, ohne zu kotzen.«
    »Wo ist die verdammte Auffahrt?«
    »Ich glaube, du bist schon dran vorbei.«
    »Nein, da ist sie.« Vince riß den Wagen nach links, daß die Reifen über den Bürgersteig quietschten.
    »Du«, sagte Chuck, »du, ich glaube nicht –«
    »Ich habe noch beschissene zwanzig Dollar zum Versaufen übrig. Die werden das Geld schon nehmen. Irgend jemand wird es schon nehmen.«
    »Vince, du fährst in die falsche Richtung!«
    »Was?«
    »Du fährst in die
falsche Richtung!
« brüllte Chuck.
    Vince schüttelte den Kopf und versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren. Aber die Lichter waren zu hell und blendeten ihn. Er hatte das Gefühl, daß sie immer greller wurden.
    »Fahr rechts!« schrie Chuck. »Es ist ein Auto! Fahr rechts.«
    Vince fuhr rechts. Die Lichter auch.
    Er hörte ein Kreischen, unvertraut und gespenstisch.
    Nicht Chucks, sondern sein eigenes.
    Dr. Abby DiMatteo war so müde wie in ihrem ganzen Leben noch nicht. Sie war jetzt seit dreißig Stunden ununterbrochen auf den Beinen, wenn man das zehnminütige Nickerchen im Röntgenzimmer nicht mitzählte. Und sie wußte, daß man ihr die Erschöpfung ansah. Beim Händewaschen auf der Wachstation hatte sie kurz in den Spiegel geblickt und entsetzt die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihre zerzauste schwarze Mähne registriert. Es war schon zehn Uhr vormittags, und sie hatte noch nicht geduscht, ja nicht einmal die Zähne geputzt.
    Zum Frühstück hatte sie ein hartgekochtes Ei und eine Tasse gesüßten Kaffee zu sich genommen, die ihr eine aufmerksame OP-Schwester in der Intensivchirurgie vor einer Stunde in die Hand gedrückt hatte. Wenn Abby Glück hatte, fand sie wenigstens Zeit zum Mittagessen. Wenn sie noch mehr Glück hatte, konnte sie das Krankenhaus um fünf Uhr verlassen und um sechs zu Hause sein. Im Augenblick wäre es schon der schiere Luxus gewesen, sich in einen Stuhl fallen lassen zu können. Doch während der Montagsvisite setzte sich niemand.
    Garantiert nicht, wenn der diensthabende Arzt Dr. Colin Wettig war, Professor für Chirurgie am Bayside-Hospital. Als pensionierter General der Armee genoß Dr. Wettig den Ruf, knappe und gnadenlose Fragen zu stellen. Abby hatte eine Heidenangst vor dem General, genau wie alle anderen Assistenzärzte auch.
    Elf von ihnen standen jetzt in einem Halbkreis aus weißen Kitteln und grünen OP-Anzügen in der Intensivchirugie. Ihre Blicke waren auf den Chefarzt gerichtet. Sie wußten, daß jeder von ihnen mit einer Frage attackiert werden konnte. Wer dann keine Antwort wußte, mußte sich einer längeren Prozedur persönlicher Demütigung unterziehen.
    Die Gruppe hatte bereits vier frisch operierte Patienten begutachtet und Behandlungspläne und Prognosen erörtert.

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