Kalte Stille - Kalte Stille
Koffer. Draußen vor dem Fenster parkte ein Lieferwagen, in den Jans - nun ehemaliger - Schwager den letzten Umzugskarton hievte. Jan erinnerte sich an Martinas Blick und an die Endgültigkeit ihres Entschlusses. Jeder Versuch, sie noch einmal umzustimmen, wäre zwecklos gewesen - selbst wenn Jan es gewollt hätte. Doch er hatte gewusst, dass es so besser war.
Jan erinnerte sich an Martinas letzte Worte, ehe sie zu ihrem Bruder in den Lieferwagen stieg und für immer aus seinem Leben verschwand: »Eines Tages wirst du einsehen, dass du ohne Hilfe nicht von deiner Besessenheit freikommst. Ich wünsche dir wirklich von Herzen, dass es dann jemanden gibt, von dem du dir helfen lässt. Ich war da wohl die Falsche.«
»Sie scheinen sich nicht sicher zu sein«, holte ihn Rauh aus seinen Gedanken zurück.
Jan zögerte mit seiner Antwort, ließ Martinas Worte in sich nachklingen. Dann nickte er. »Versuchen sollten wir es.«
Zufrieden lächelnd klatschte Rauh mit den Händen auf seine Schenkel. »Sehr gut, das ist ein Wort.
Kommen Sie morgen nach Dienstschluss zu mir auf Station 12.«
»Okay«, meinte Jan. »Aber unser Treffen werden Sie vertraulich behandeln?«
»Offiziell werden Sie als Hospitant in meinem Fachbereich geführt«, versicherte ihm Rauh. Dann fügte er zwinkernd hinzu: »Wer weiß, vielleicht werden Sie das auch sein, wenn Sie sich von der Wirksamkeit meiner Arbeit überzeugen konnten. Es wäre schön, wieder mit einem Dr. Forstner zusammenzuarbeiten.«
Jan fühlte sich nach wie vor unwohl bei dem Gedanken, Rauhs Therapieangebot zu nutzen. Es machte ihm Angst, in die Abgründe seiner Vergangenheit zu steigen und die alten Geister aus den Verliesen zu lassen, in die er sie nur mit Mühe hatte einsperren können. Aber so lautete nun einmal die Bedingung, die ihm Fleischer gestellt hatte. Und dann waren da noch Martinas Abschiedsworte, in denen weitaus mehr als nur ein Quäntchen Wahrheit gelegen hatte.
»So, nun will ich Sie aber nicht länger vom wohlverdienten Feierabend abhalten.« Rauh erhob sich. Er war schon fast bei der Tür, als er sich noch einmal umwandte.
»Wo werden Sie die nächste Zeit wohnen? Wenn ich mich nicht täusche, ist Ihr Elternhaus doch vermietet.«
»Ich wohne vorübergehend bei einem Freund«, sagte Jan, und einer plötzlichen Eingebung folgend fügte er hinzu: »Rudolf Marenburg. Kennen Sie ihn?«
»Marenburg«, sagte Rauh nachdenklich. »Kennen wäre zu viel gesagt. Er ist ein alter Fahlenberger so wie ich, und die Stadt ist klein. Da läuft man sich zwangsläufig hin und wieder über den Weg.«
»Wenn Sie damals schon an der Waldklinik gearbeitet
haben, müssten Sie seine Tochter gekannt haben. Alexandra.«
»Ich weiß noch, dass sie hier während ihrer Behandlung verstorben ist«, sagte Rauh und machte eine bedauernde Geste. »Aber an mehr kann ich mich nicht erinnern. Ist schon eine Ewigkeit her.«
»Sie war wegen Depressionen auf der Station meines Vaters«, half Jan seiner Erinnerung auf die Sprünge. »Eines Nachts im Januar drehte sie durch, lief von der Station fort und ertrank halbnackt im Stadtweiher.«
Nun schien Rauh sich wieder zu erinnern. »Ach ja, richtig. War ein hübsches Ding, die kleine Marenburg. Sehr tragisch. Waren Sie damals nicht im Park, als es passiert ist?«
Die Art, wie Rauh auf das Thema reagierte, gefiel Jan nicht. In seinen teuren Klamotten sah der Arzt vielleicht wie ein Model für Männermode aus, aber ein guter Schauspieler war er nicht.
»Ich habe nie verstanden, warum sie so panisch gewesen ist«, fuhr Jan fort. »Sie wirkte vollkommen verwirrt, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.«
Rauh hob bedauernd die Hände. »Wie gesagt, es ist lange her. Ich glaube mich noch düster zu erinnern, dass sie neben den Depressionen auch an einer ausgeprägten Angsterkrankung litt. Aber ganz gleich, was der Grund für ihren Tod war, ändern können wir daran nichts mehr. Warum fragen Sie danach?«
»Nun ja, ich frage mich immer noch, was jemanden dazu treibt, nachts im Winter durch den Park zu rennen, noch dazu mit kaum einem Fetzen Kleidung am Leib.«
Rauh nickte ernst. »Das ist verständlich. Andererseits sollten Sie lernen, die Vergangenheit loszulassen, Jan. Es gibt nicht immer eine Erklärung für alles. Lassen Sie
mich Ihnen helfen, wieder in der Gegenwart zu leben. Wir sind viel zu kurz auf dieser Welt, als dass wir nur Zeit für Vergangenes hätten, finden Sie nicht?«
Die Vergangenheit loslassen, dachte Jan. Das ist leichter
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