Kalte Stille - Kalte Stille
davon überzeugt war, dass nur sie selbst schuld an ihrer Langzeitarbeitslosigkeit war, weil sie nichts wert sei.
Das letzte Gespräch an diesem Nachmittag führte Jan mit einem jungen Mann, der seine psychotischen Wahnvorstellungen auf seine achtundsiebzigjährige Nachbarin projizierte.
»Sie tut das jede Nacht, glauben Sie mir«, sagte er und rutschte dabei nervös auf dem Besucherstuhl in Jans kleinem Büro hin und her. »Jede gottverdammte Nacht. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich im Bett, auf dem Boden oder auf dem Sofa liege. Immer wenn ich kurz vor dem Einschlafen bin, schiebt sie ihren hässlichen Kopf durch die Wand, und dann beschimpft sie mich. Wenn man sie im Treppenhaus trifft, ist sie scheißnett, aber wehe, sie
schaut nachts durch die Wand. Ha! Diese verdammte alte Hexe!«
Dass er krank sei und es sich bei dem Hexengesicht aus der Wand um das Ergebnis gestörter Impulse seiner Synapsen handelte, wollte der Patient nicht wahrhaben. Jan entschied, die Medikamentendosis zu erhöhen. Zuerst war es wichtig, dass die Halluzinationen nachließen, damit die Basis für ein vernünftiges Gespräch geschaffen werden konnte. Solange bei diesem Patient keine Krankheitseinsicht bestand, war die Hoffnung auf eine erfolgreiche Therapie illusorisch.
Nachdem sein Patient gegangen war, schrieb Jan den Bericht. Als er wieder aufsah, lehnte ein hochgewachsener Mann im Türrahmen. Die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben, grinste er Jan an.
»Gleich am ersten Tag Überstunden? Das sollten Sie nicht zur Gewohnheit werden lassen. Kleiner Finger, ganze Hand, Sie wissen schon.«
Jans Gegenüber hätte durchaus einem Modeprospekt für den sportlich-eleganten Mittfünfziger entsprungen sein können. Die schelmische Art, mit der er Jan musterte, ließ ihn um einige Jahre jünger wirken.
»Ich bin Norbert Rauh«, stellte er sich vor. »Raimund hat Ihnen bestimmt schon von mir erzählt.«
»Ja, das hat er«, entgegnete Jan. Das was also Fleischers »Bedingung« - wobei Jan feststellte, dass Rauh zu den seltenen Menschen gehörte, bei denen er sich auf den ersten Blick nicht sicher war, ob sie ihm sympathisch waren oder nicht.
Ohne auf eine Aufforderung zu warten, betrat Rauh das kleine Büro und ließ sich auf Jans Besucherstuhl nieder. Jan roch den dezenten Hauch eines holzigen Aftershaves.
»Freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte Rauh. »Bei unserer letzten Begegnung müssen Sie zehn oder elf gewesen sein. Wahrscheinlich werden Sie sich nicht mehr daran erinnern.«
»Um ehrlich zu sein, nein.«
»Ist ja auch schon eine Weile her.« Rauh seufzte. »Manchmal scheint es mir wie eine Ewigkeit. Wissen Sie, ich habe Ihren Vater gut gekannt. Wir haben damals gemeinsam an einem Forschungsprojekt gearbeitet. Hypnotherapie. Bernhard war fasziniert von diesem Thema. Sein Tod war ein schlimmer Verlust. Unfassbar. Ihr Vater war ein großartiger Mensch.«
»Haben Sie lange zusammengearbeitet?«
»Etwas mehr als zwei Jahre. Nach Bernhards Tod habe ich unser Projekt zunächst allein weitergeführt, ehe ich zwei neue Kollegen dafür gewinnen konnte, die Ihrem Vater annähernd das Wasser reichen konnten. Ich denke, er wäre mit den Resultaten sehr zufrieden gewesen.«
»Ich wusste gar nicht, dass es an der Waldklinik eine Forschungsabteilung gibt.«
Rauh schüttelte den Kopf. »Gibt es auch nicht. Wir haben damals mit der Ulmer Universität kooperiert. Danach habe ich lange Zeit in Cambridge und Oxford gearbeitet. Erst vor vier Jahren bin ich mit einem kleinen Umweg über Hamburg wieder in die alte Heimat zurückgekehrt.« Erneut grinste er, doch diesmal wirkte sein Grinsen nicht ganz so selbstsicher, eher ein wenig melancholisch. »Ich glaube, Sie wissen, wie es ist, wenn man irgendwann wieder zu seinen Wurzeln zurückkehrt, die alte Geborgenheit sucht. Nur die Gründe dafür sind unterschiedlich. In meinem Fall war es das Alter, das sich leider nicht mehr ignorieren lässt … Aber das ist nicht
der Grund für meinen Besuch, wie Sie sich bestimmt denken können.«
Jan verstand die Anspielung und beschloss, das eigentliche Thema geradeheraus anzusprechen. »Professor Fleischer hat ein Therapieangebot bei Ihnen erwähnt. Er meinte, Sie könnten mir helfen.«
»Das ist richtig.« Rauh nickte und sah Jan abschätzend an. »Und was meinen Sie dazu, Jan? Kann man Ihnen denn helfen?«
Für einen Moment erschien vor Jan das Bild seiner Exfrau. Martina stand im Schlafzimmer und packte ihre restlichen Kleidungsstücke in einen
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