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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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verstanden?«
    Als Jan die Kellertreppe emporstieg und schließlich ins Freie trat, glaubte er, noch immer Liebwerks Blick zu spüren. Er hoffte, dass er keinen Fehler gemacht hatte.

8
    Obwohl es erst kurz nach sechs Uhr war, hätte man meinen können, es sei bereits tiefste Nacht. Die Wegbeleuchtung auf dem Klinikgelände mühte sich ab, die Schwärze zu durchbrechen.
    Doch mehr noch als die Dunkelheit war es die Stille, die Jan bedrückte, während er den Weg zu Station 12 einschlug. Er durchsuchte seine Erinnerung nach einer Melodie, die die Stille aus seinem Kopf vertreiben könnte. Diesmal fiel es ihm schwer, denn statt einer akustischen Erinnerung stiegen nur Bilder in ihm auf. Bilder einer sterbenden jungen Frau, deren eingedrücktes Gesicht von dicken Schneeflocken benetzt wurde.
    Und dann kam ihm doch ein Ton in den Sinn - auch wenn es sich dabei nicht um Musik handelte. Vielmehr
war es eine Stimme, die sich durch eine Kehle voller Blut quälte, um einen Laut zu formen.
    Gäoh!
    Weder das reale Knirschen seiner Schritte noch das Ächzen des Windes in den Bäumen konnte den imaginären Laut in seinem Kopf übertönen, und Jan fragte sich, ob dieser Laut nicht sogar noch schlimmer als die Stille war.
    Gääääoooooh!
    Das Heulen eines Rettungswagens riss ihn in die Realität zurück. Nur wenige hundert Meter Luftlinie von Jan entfernt eilte ein Wagen der Notambulanz des benachbarten Stadtklinikums zu einem Einsatz.
    Noch bevor es gleich darauf wieder still wurde, hatte Jan sein Ziel erreicht. Seufzend blieb er vor dem Stationsgebäude stehen und besah sich das Haus mit der Nummer 12. Ein hässlicher zweistöckiger Betonklotz, nichts im Vergleich zu der Privatstation, die sich gleich daneben befand.
    Für einen Moment überkam ihn der Drang, zu seinem Handy zu greifen, Martinas Nummer zu wählen und ihr zu sagen, dass sie Recht gehabt hatte. Jetzt ist der Moment gekommen, wollte er ihr sagen. Ich habe es endlich kapiert. Ich werde mir helfen lassen. Auch wenn ich skeptisch bin. Aber immerhin unternehme ich jetzt etwas - etwas gegen diese unerträgliche Stille, die wie ein lautloses Echo in mir schwingt und mich nachts aufschreien lässt .
    Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen, es tatsächlich zu tun. Vielleicht hätte sie sich sogar für ihn gefreut, dass er schließlich doch noch zur Einsicht gekommen war. Aber er hätte doch nur wieder eine alte Wunde aufgerissen. Eine Wunde, von der er hoffte, dass
sie bei Martina längst zu heilen begonnen hatte. Nein, Martina hatte ebenso das Recht auf einen Neuanfang wie er selbst. Nach allem, was sie mit ihm durchgemacht hatte, verdiente sie es, in Ruhe gelassen zu werden. Auch wenn er sich das immer wieder neu ins Bewusstsein rufen musste.
    Jan musste klingeln, da sein Schlüssel für Station 12 nicht passte. Während er wartete, sah er im Fenster der Privatstation eine Frau mit kurzen dunklen Haaren, die ihm zuwinkte. Sie hielt etwas im Arm, das Jan für einen Teddybären hielt. Jan winkte zurück.
    Dann ertönte der Summton der Schließanlage, und eine Schwester bat ihn, einzutreten.
    »Sie sind der neue Kollege von Dr. Rauh, nicht wahr?«, sagte sie, während sie ihn durch den Flur der geschlossenen Frauenstation führte.
    Jan gab Fleischers offizielle Version zum Besten, nach der er bei Rauh für eine Weile hospitieren würde. Die Schwester schien jedoch nur mäßig interessiert. Als sie die Mitte des Ganges erreicht hatten, forderte sie Jan auf, kurz zu warten. Sie werde Dr. Rauh Bescheid geben. Dann verschwand sie im Stationszimmer.
    Jan betrachtete die hinter Plastik gerahmten Bilder an der Wand: Poster aus einem Naturmagazin. Die Niagarafälle, eine neuseeländische Regenwaldidylle und der Ayers Rock in Australien. Orte, die so manchem Patienten einer geschlossenen Psychiatriestation mindestens ebenso fremdartig und unerreichbar erscheinen mussten wie das Alltagsleben eines Durchschnittsbürgers außerhalb der Klinikmauern.
    »He, wer bist du?«
    Eine Frauenstimme riss ihn aus seinen Gedanken. Jan sah sich um und erschrak. Die Stimme hätte gut zu einem
jungen hübschen Mädchen gepasst, doch die Frau, die da in Filzpantoffeln auf ihn zugeschlurft kam, war weder jung noch hübsch. Der Großteil ihres Kopfes war kahlrasiert und durch einen monströsen Blutschwamm bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Jan hatte schon von solchen Gefäßmissbildungen gelesen, die vor allem bei Frauen in Erscheinung traten. Gewaltige Hämangiome, eine Folgeerscheinung von

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