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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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Holztreppe, hatte Jan das Gefühl, als stiege er in ein altes Verlies hinab. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er den Kellerflur entlangging und zu einer schweren Stahltür mit der Aufschrift ARCHIV gelangte. Ebenso gut hätte dort KERKER stehen können, dachte Jan.
    Doch statt eines Kerkers erwartete ihn hinter der Tür noch ein Gang, der nach wenigen Metern an einer weiteren Stahltür endete. Hier musste der Verwaltung das Geld für die Renovierung ausgegangen sein. Vielleicht hatte man es aber auch einfach nicht für nötig gehalten, den abblätternden Putz der grauen Wände zu erneuern, die freiliegenden Wasser- und Heizungsrohre an der Decke zu verkleiden oder für eine bessere Beleuchtung
zu sorgen, da außer dem Archivar und den Mitarbeitern der Poststelle ohnehin niemand diesen Bereich aufsuchte.
    Jan klopfte an die Tür, wartete auf ein »Herein«, und als er keine Antwort erhielt, trat er ein.
    Vor ihm tat sich ein hoher Raum auf, dessen Wände mit Regalen und Registerkästen zugestellt waren. Es roch muffig nach altem Papier und Stein und - obwohl an einer der Wände gleich neben dem Feuerlöscher ein großes Rauchverbotsschild angebracht war - nach kaltem Tabakrauch.
    In der Mitte des Raums stand ein einzelner großer Holztisch, auf dem sich Berge von Akten und Papieren stapelten. Hätte nicht auch ein Computer mit Flachbildschirm dort gestanden, hätte das Archiv ohne weiteres die Kulisse für einen Vierzigerjahre-Schwarz-Weiß-Streifen abgeben können.
    Zur Rechten stand eine weitere Tür offen. Dahinter war ein Husten zu vernehmen, und jemand schien Kartons über den Betonboden zu schieben.
    »Hallo!«, rief Jan, und sofort verstummte das schleifende Geräusch.
    »So früh heute?«, krächzte eine Männerstimme. Wieder wurde gehustet, und dann erschien ein älterer Mann in grauem Tweedanzug in der Tür. Auch er sah aus wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Mit der Kippe im Mundwinkel fügte er sich nahtlos ins Ambiente.
    »Ah, ein Neuer«, sagte der Alte. Er watschelte zum Tisch und drückte die Zigarette in einem überquellenden Aschenbecher aus.
    So viel zu dem Rauchverbotsschild, dachte Jan und verkniff sich eine Bemerkung. Diese Begegnung erschien ihm irgendwie skurril, wie aus einer Karikatur.

    »Ich dachte schon, die aus der Poststelle haben ihre Mittagspause vergessen.«
    Der Alte kam auf Jan zu und hielt ihm eine knochige Hand mit nikotingelben Fingern entgegen.
    »Hieronymus Liebwerk, Archivar dieser Klinik seit Neunzehnhundert… ach … irgendwas.«
    Jan stellte sich vor und gab Liebwerk die Hand, die sich unangenehm kalt und kraftlos anfühlte.
    »Dachte mir gleich, dass Sie nicht zur Verwaltung gehören. Auch wenn’s heute schwerfällt, hier die Ärzte von den Schreibtischhengsten zu unterscheiden. Früher habt ihr wenigstens noch eure weißen Kittel getragen.«
    »Den trage ich eigentlich nur noch zum Blutabnehmen.« Jan versuchte ein Lächeln. »Ansonsten besteht ja auch kein Grund dafür.«
    »Wohl wahr. Heutzutage ist der Herren Psychiater wichtigstes Werkzeug das Reden. Und natürlich das Pillenköfferchen.«
    Liebwerk bleckte seine gelben Zähne zu einem schiefen Lächeln. Seine blassgrauen Augen begannen plötzlich zu funkeln, und Jan erkannte, dass unter der hinfälligen Hülle ein hellwacher Geist steckte.
    »Und was führt Sie in mein vergessenes Reich?«, fragte Liebwerk und deutete auf die Kartonmappe in Jans Hand. »Wollen Sie etwa unseren Chef beeindrucken, indem Sie ihm vorschlagen, die Hauspost einzusparen?«
    Er lachte auf, wurde aber im nächsten Moment wieder von einem Hustenanfall geschüttelt.
    »Nein, ich war nur gerade hier im Haus«, schwindelte Jan, »und dachte mir, ich schaue mir mal an, wohin die Mühen meiner Arbeit wandern.«
    Nickend nahm Liebwerk die Akte entgegen. »Tja, die
Bürokratie ist ein nimmersattes Ungetüm, Dr. Forstner. Ständig will sie gefüttert werden, aber es schert sie einen Dreck, wie viel Mühe man sich bei der Zubereitung ihres Futters gegeben hat.«
    Er las den Namen »Kevin Schmidt« und schob die Mappe in einen Stapel weiterer Akten neben dem Monitor. Dann sah er sich im Raum um und breitete die Arme aus.
    »Hier lagern fast hundert Jahre Krankenhausgeschichte. Alles fein säuberlich einsortiert. Wenn man sich das vor Augen führt, bekommt die Redensart, dass Papier geduldig sei, eine deutlich stärkere Aussagekraft, finden Sie nicht?«
    Nun war Jan ein wenig verwundert. »Werden die Akten hier nicht nach einer

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